Die Drohmails des NSU 2.0 zeigen einmal mehr: Engagierte Frauen werden im Internet oft zur Zielscheibe von Beschimpfungen und Drohungen. Woher kommt der Hass?
Als Gökay Akbulut spätabends ihre E-Mails abruft, liest sie die gleichen Drohungen, die vor ihr schon andere Frauen erhalten haben. Das Schreiben enthält Morddrohungen, von Abschlachten und anschließendem Vergasen ist die Rede. Unterzeichnet mit "NSU 2.0".
"Ich war völlig erschrocken", erzählt die Politikerin, die für die Linke im Bundestag sitzt, im Gespräch mit unserer Redaktion. "Bin ich also die nächste Adressatin?", fragt sie sich. "Oder ist das ein Trittbrettfahrer? Ein geschmackloser Scherz?"
Akbulut ist verunsichert, kann nicht schlafen. Am nächsten Tag tauscht sie sich mit ihrem Team aus, geht erst zur Polizei – und dann an die Öffentlichkeit.
Auch die hessische Linken-Fraktionschefin Janine Wissler, die Kabarettistin Idil Baydar und die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz gehören zu den Empfängerinnen der Drohnachrichten vom NSU 2.0. Basay-Yildiz hatte im Prozess um die Morde des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) Opferfamilien vertreten.
Dass Frauen Zielscheibe von Hass im Netz werden, ist kein neues Phänomen. Prominentes Beispiel ist
Psychologin: "Sie denken, sie selbst seien besser"
Die Forschung zeigt: Zwischen 15 und 20 Prozent der Bevölkerung neigen zu einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, erklärt Psychologin Anne Otto, Autorin des Buches "Woher kommt der Hass? Die psychologischen Ursachen von Rechtsruck und Rassismus".
"Diejenigen haben eine Dominanzsicht, sie glauben, dass es Leute mit mehr und mit weniger Macht geben muss. Und sie denken, sie selbst seien besser. Ihr Hass betrifft diverse Minderheiten: Muslime, Sinti und Roma, Homosexuelle oder eben auch Frauen."
Dass Frauen keine Minderheit sind, steht außer Frage. "Aber sie werden von diesen Menschen so wahrgenommen – und in öffentlichen Positionen sind sie es ja auch tatsächlich." Dieses strukturelle Problem mache Frauen besonders angreifbar.
"Solche Leute wollen, dass alles so bleibt, wie es ist", erklärt Otto. "Für manche sind schon Frauen, die sich laut äußern, eine Provokation." Vielen Tätern gehe es auch darum, das eigene Selbstbewusstsein aufzumöbeln.
Akbulut: "Ich lasse mich nicht einschüchtern"
Wie aber umgehen mit Hass und Drohungen? "Es ist ein Spagat", findet Gökay Akbulut. "Wenn darüber berichtet wird, spielt man den Tätern in die Hände. Und doch will ich signalisieren: Ich lasse mich nicht einschüchtern – und mich nicht von meiner politischen Arbeit abhalten."
Dennoch lasse sie die Mail nicht kalt, der Hass sei ein zusätzlicher Stressfaktor zum hohen Arbeitspensum. Als Politikerin kriege man über Social Media ohnehin viel Kritik und Hate-Speech ab – aber E-Mails mit Morddrohungen, das sei ein anderes Niveau.
Wenig Vertrauen in die Polizei
Das Vertrauen in die Polizei ist bei einigen der betroffenen Frauen tief erschüttert. Vor dem Versenden der Hass-Botschaften waren persönliche Daten zu Juristin Basay-Yildiz, Kabarettistin Baydar und Politikerin
Dass die Beamten nicht zeitnah ermitteln konnten, wer dahintersteckt, ärgert Akbulut sehr – auch wenn sie mehrfach betont, die Polizei nicht unter Generalverdacht stellen zu wollen. "Aber die Sicherheitsbehörden sind nach wie vor auf dem rechten Auge blind." Sie erwarte, dass die Bundesgeneralanwaltschaft die Ermittlungen übernehme.
Am Wochenende hatten Ermittler in Zusammenhang mit dem NSU 2.0 einen Ex-Polizisten aus Bayern und seine Frau vorübergehend festgenommen. Der Mann weist die Vorwürfe entschieden zurück. Auch das bayerische Landesamt für Verfassungsschutz hat sich eingeschaltet.
Sprachverrohung im Netz
Eine Ursache für die besorgniserregenden Entwicklungen sieht Anne Otto in der Sprachverrohung: Vor allem – aber eben nicht nur – im Netz verschiebe sich Gewalt in die Sprache.
"Wir dürfen nicht vergessen: Sprache schafft Wirklichkeit", mahnt die Psychologin. Das Thema Gewalt im Internet rücke gerade erst stärker ins Bewusstsein von Politik und Sicherheitsbehörden. "Betroffene prangern immer wieder an, dass die bisherigen Strukturen nicht ausreichen."
Anfang Juli hat der Bundesrat ein Gesetz gebilligt, das neue Regeln und Strafverschärfungen gegen Hasskriminalität vorsieht. Demnach wird beim Bundeskriminalamt eine neue Zentralstelle eingerichtet, an die Betreiber von sozialen Netzwerken Morddrohungen, volksverhetzende Äußerungen und weitere strafbare Inhalte melden müssen.
Stärkende Solidarität
Dass auf Worte Taten folgen, bereitet auch den Betroffenen Sorge. Der Mord an Walter Lübcke, die Attentate von Halle und Hanau stecken Gökay Akbulut schwer in den Knochen. Einigen rechtsterroristischen Angreifern – darunter denen aus Halle und Hanau – wiesen Ermittler nicht nur Ausländerfeindlichkeit oder Antisemitismus nach, sondern auch Sexismus oder Frauenhass. In den USA hat vergangene Woche ein Anwalt, der sich selbst als "Streiter gegen den Feminismus" bezeichnete, den Sohn einer Bundesrichterin erschossen und ihren Mann schwer verletzt. Die Frau selbst blieb unverletzt.
Genau wie andere Betroffene hat Akbulut nach Bekanntwerden des Vorfalls viel Zuspruch und Solidaritätsbekundungen erhalten. Das tue gut, betont sie – genau wie der Zusammenhalt unter den Frauen.
Ein gemaltes Bild zeigt in den sozialen Netzwerken fünf von ihnen, die sich zusammengetan haben. Dazu twitterte Seda Basay-Yildiz: "Grüße an den OberSTRUMPFbandführer – ihr bekommt uns nicht klein." Eine Anspielung, da Droh-SMS etwa an Idil Baydar mit "SS-Obersturmbannführer" unterzeichnet waren.
Die zivilgesellschaftliche Unterstützung stärke ihnen den Rücken, betont Akbulut. "Wir müssen uns gemeinsam konsequent gegen diese Drohungen positionieren – und einfordern, dass strukturelle Probleme in den Sicherheitsbehörden aufgearbeitet und die Fälle aufgeklärt werden."
Die Hassbotschaften beträfen nicht nur die Adressatinnen. "Sie richten sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung."
Verwendete Quellen:
- Bundesregierung.de: Entschieden gegen Hetze im Netz
- Zeit Online: Rechtsextremist und Sexist
- Twitter-Profil von Seda Basay-Yildiz
- Neues Deutschland: Wir gehen da gemeinsam durch
- Deutsche Presse-Agentur
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