Die Klimakonferenz in Madrid läuft – und die "Fridays for Future"-Bewegung hat das Thema Klimaschutz in diesem Jahr ganz oben auf die Agenda gebracht. Aber wie realistisch sind die Forderungen der Aktivisten? Zwei Experten, zwei Einschätzungen.
Die deutsche "Fridays for Future"-Bewegung will die Nettonull bis 2035. Das würde bedeuten, dass Deutschland dann nicht mehr Kohlendioxid (CO2) produziert, als es über die Natur oder über Speichersysteme kompensieren kann. Im selben Jahr soll die Versorgung durch erneuerbare Energien bei 100 Prozent liegen. Die Bewegung verlangt außerdem den Kohleausstieg bis 2030.
Was – zumindest in der geforderten Zeit – nicht klappen wird: Die Bewegung setzt sich dafür ein, dass die Politik bis Ende dieses Jahres Subventionen für fossile Energieträger streicht, sowie ein Viertel der Kohlekraft abschaltet.
Eine Steuer auf Treibhausgasemissionen kommt zwar – jedoch bei weitem nicht so, wie die Klimaaktivisten sie sich wünschen: Der Preis für den Ausstoß von (allen) Treibhausgasen soll nach ihren Vorstellungen möglichst schnell auf 180 Euro pro Tonne CO2 steigen. Das Mitte November vom Bundestag beschlossene Klimapaket schreibt in den Bereichen Verkehr und Wärme ab 2021 den Preis von zehn Euro pro Tonne CO2 vor, bis 2025 soll er auf 35 Euro steigen, später zunächst bei 60 Euro gedeckelt sein.
Hier liegen die Vorstellungen der Klimaaktivisten und die politische Realität also weit auseinander. Aber wie umsetzbar sind die Forderungen wirklich? Antworten geben Hans von Storch, ehemaliger Leiter des Instituts für Küstenforschung am Helmholtz-Zentrum in Geesthacht und emeritierter Professor der Universität Hamburg, sowie Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energien an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW Berlin) und Mitglied der Bewegung "Scientists for Future".
Zur Forderung "Nettonull 2035"
Hans von Storch: Dieses Ziel halte ich für sehr ambitioniert. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es gelingen soll. Wir müssen heizen, wir müssen uns fortbewegen. Nicht nur uns, sondern auch unsere Güter: Sind die Fahrzeuge so schnell schon dafür geeignet, ohne CO2-Ausstoß zu fahren?
Ich weiß nicht, ob das technisch möglich ist – aber um diese Frage kümmern sich die jungen Aktivisten auch gar nicht. Ich glaube, wenn wir es bis 2050 schaffen, wäre das schon eine enorme Leistung.
Volker Quaschning: Die Forderung der Bewegung ist realistisch. Wenn wir die Ziele des Pariser Klimaabkommens einhalten wollen, ist sie sogar unumgänglich: Klimaforscher Stefan Rahmstorf hat vorgerechnet, dass wir die Nettonull dafür bis 2035 erreichen müssen.
Technisch und finanziell ist das auch umsetzbar – aber wenn wir in diesem Tempo weitermachen, dann brauchen wir etwa zehnmal so lang. Wir müssen fossile Energieträger ersetzen. Die Politik bremst jedoch den Ausbau von Wind- und Solarenergie aus.
Zur Forderung "Kohleausstieg bis 2030"
Hans von Storch: Diese Forderung ist weitaus realistischer als die Nettonull. Bei der Herstellung von Strom ließe sich einiges bewirken.
Aber was die Prozesswärme in der Industrie angeht, müsste man einiges an Entwicklungsarbeit leisten. Die Regierung plant den Kohleausstieg bis 2038 – und darüber haben kluge Leute lange nachgedacht.
Volker Quaschning: Auch in diesem Ziel steckt sehr viel Realismus. Je schneller der Ausstieg gelingt, desto sinnvoller. Weil derzeit aber noch gut 30 Prozent unseres Strombedarfs aus Kohlekraft stammt, müssen wir weitere Ersatzkapazitäten bauen.
Wind- und Solarenergie schwanken stark, deswegen sind Speicher nötig. Für die Übergangszeit braucht es Erdgaskraftwerke, die später ebenfalls umgerüstet werden. Das alles ist in acht bis zehn Jahren machbar – allerdings nicht, wenn wir noch weitere drei Jahre darüber diskutieren.
Zur Forderung "100 Prozent erneuerbare Energien bis 2035"
Hans von Storch: Wenn die Nettonull erreicht ist, dann liegen wir automatisch bei einer vollständigen Versorgung mit erneuerbaren Energien. Beides ist meines Erachtens in den kommenden 15 Jahren nicht zu schaffen.
Volker Quaschning: Diese Forderung bedeutet, dass Öl, Kohle und Gas komplett ersetzt werden müssen. Den Anteil an Solar- und Windenergie müssen wir dafür erheblich steigern. Technisch und finanziell ist das machbar – es umzusetzen ist allerdings Aufgabe der Politik, nicht der Aktivisten von Fridays for Future.
Zur Forderung "Ende der Subventionen für fossile Energieträger bis Ende 2019"
Hans von Storch: 2019 war hier viel zu kurzfristig gesetzt. Selbst wenn die Bewegung die Frist nun auf April 2020 legt - es braucht eine gewisse Zeit, um umzusteigen. Die Energieversorgung muss gewährleistet sein.
Es kann sein, dass ein Ende dieser Subventionen vernünftig wäre – aber wir müssen uns auch fragen: Was macht das mit der Industrie, was mit der Gesellschaft? Mit ihrer Forderung können die Aktivisten höchstens aufrütteln.
Volker Quaschning: Als die Schüler dieses Ziel Anfang des Jahres aufgestellt haben, wäre es noch machbar gewesen. Nun ist das Jahr rum. Auch das Umweltbundesamt plädiert dafür, die umweltschädlichen Subventionen zu stoppen. Wenn es genauso teuer wird, Diesel-Fahrzeuge zu fahren, wie Benziner, wird es einen Aufschrei geben.
Und es kann durchaus passieren, dass Unternehmen in Schieflage geraten, wenn die einkalkulierten Subventionen wegfallen. Aber das kann ja nicht auf Dauer die Begründung sein, klimaschädliches Verhalten von staatlicher Seite zu belohnen.
Zur Forderung "Ein Viertel der Kohlekraft abschalten bis Ende 2019"
Hans von Storch: Die Kohlekommission hat einen ähnlichen Wert bis 2022 beschlossen. Ich halte es für einen billigen rhetorischen – und populistischen – Trick, längst gesetzte Ziele einfach ein bisschen weiter nach vorne zu ziehen.
Volker Quaschning: Wir exportieren Kohlestrom, produzieren also mehr als wir benötigen. Da auch die letzten Kernkraftwerke in gut zwei Jahren abgeschaltet werden, können wir nicht alle Kohlenmeiler sofort vom Netz nehmen. Aber auf die ältesten Kraftwerke können wir verzichten: 20 bis 25 Prozent sind problemlos abstellbar.
Zur Forderung "Steuer auf alle Treibhausgasemissionen muss schnell steigen"
Hans von Storch: Auch hier: Die Bewegung setzt die Fristen früher und die Preise höher als politisch gewollt und gesellschaftlich umsetzbar. Meines Erachtens gilt das nur der Provokation.
Volker Quaschning: Wenn die Aktivisten sofort 180 Euro pro Tonne fordern würden, dann würde ich ganz klar sagen: Das geht nicht. Denn dann wären beispielsweise sämtliche Kohlekraftwerke sofort unwirtschaftlich. Es ist sinnvoll, erst einmal mit einem niedrigeren Preis zu beginnen.
Die tatsächlich beschlossenen zehn Euro sind allerdings ein Witz. Zwischen 40 und 70 Euro als Einstiegspreis, der dann schnell in Richtung 180 Euro steigt – diese Größenordnung empfehlen Wissenschaftler. Bei der CO2-Steuer stellt sich besonders die Frage nach der sozial gerechten Verteilung und möglichen Ausgleichsmaßnahmen.
Denn wenn die Politik eine enorme Belastung ohne Entlastung beschließt, haben wir unter Umständen schnell dieselbe Situation wie in Frankreich, wo die Gelbwesten-Proteste aufgekommen sind. Bei einer gut gemachten Politik muss man diese Ängste aber nicht haben: Aus Sicht der jungen Generation sind die 180 Euro absolut angemessen.
Fazit zum Engagement der Bewegung
Hans von Storch: Die Aktivisten stellen Forderungen, ohne konkrete Vorschläge für deren Umsetzung zu machen. Zwei Dinge bedenken sie nicht: Zum einen, dass sie den Klimaschutz auf die globale Ebene übertragen müssen. Sonst ist er wertlos. Im Rest der Welt stehen andere Themen auf der Agenda als in Deutschland.
Ich will die junge Generation deshalb dazu animieren, Technologien zu entwickeln und zu erproben, die ein Umdenken auch wirtschaftlich sinnvoll erscheinen lassen. Oder in diese Technologien zu investieren und beispielsweise E-Autos zu fahren, auch wenn sie noch nicht ganz ausgereift sind – um so deren Weiterentwicklung zu ermöglichen.
Zum anderen geht es darum, mit dem Teil des Klimawandels umzugehen, den wir nicht mehr verhindern können. Beispielsweise Küstenschutzsysteme zu errichten in Ländern, die längst von Überschwemmungen betroffen sind. Die "Fridays for Future"-Bewegung richtet ihren Blick meines Erachtens viel zu wenig über Deutschland hinaus.
Volker Quaschning: Ich habe einen Heidenrespekt vor der jungen Generation. Sie haben die Notwendigkeit zu handeln und die Lösungsoptionen deutlich besser verstanden als viele der älteren Generation. Leute, die die Forderungen der Bewegung einfach abtun, finde ich arrogant. Viele wollen damit vom eigenen Unvermögen ablenken.
Aber natürlich spielen auch Ängste eine Rolle: Jede große Veränderung beunruhigt diejenigen, denen es mit dem Status quo gut geht. Aber die Klimafolgen werden extrem sein, es braucht die Bereitschaft, etwas zu verändern. Wie wir das sozialverträglich gestalten, darüber können und müssen wir reden – aber nicht darüber, ob überhaupt etwas passieren muss.
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