Ein Germanwings-Pilot brachte vor zehn Jahren absichtlich einen Airbus 320 zum Absturz – alle 149 Passagiere und er selbst kamen dabei ums Leben. So lautet die offizielle Version der Geschehnisse. Doch ist sie auch die Wahrheit? Eine neue Untersuchung weckt Zweifel.
Andreas Lubitz starb am 24. März 2015 – und mit ihm 149 Menschen, die an Bord des Germanwings-Flugs 9525 waren. Schon 48 Stunden nach dem Absturz stand für die Behörden fest: Lubitz hatte das Flugzeug als Co-Pilot absichtlich in einen Berg in den südfranzösischen Provenzalischen Alpen geflogen. Der 28-Jährige wurde in vielen Medienberichten regelrecht als Monster dargestellt – doch war er das wirklich? Oder gibt es auch noch eine andere mögliche Version der Geschichte?
Simon Hradecky, ein österreichischer Experte für Luftfahrtsicherheit, hat acht Jahre lang an einer Untersuchung der Geschehnisse gearbeitet.
Er betreibt die Website "The Aviation Herald", die Unfälle, Abstürze und Zwischenfälle auf kommerziellen Flügen erfasst. Seiner Theorie nach könnte der Absturz der Germanwings-Maschine auch von technischen Problemen ausgelöst worden sein. Die neue Sky-Original-Dokumentation "Germanwings – Was geschah an Bord von Flug 9525?" (ab 14. März bei Sky) beleuchtet diese Theorie – und zeichnet die Geschehnisse mit vielen Statements von Hinterbliebenen der Opfer, Experten und Journalisten nach.
Germanwings-Absturz: Was genau ist passiert?
Am 24. März 2015 hebt Germanwings-Flug 9525 mit einer halben Stunde Verspätung um etwa 10:00 Uhr vormittags in Barcelona ab – das Ziel: Düsseldorf. Dort kommt der der Airbus 320 jedoch niemals an. Die Reiseflughöhe von 38.000 Fuß (ca. 11.600 Meter) erreicht die Maschine etwa eine halbe Stunde nach Start. Nur wenige Minuten später verlässt der Kapitän das Cockpit und der Co-Pilot übernimmt.
Am Autopiloten wird innerhalb von einer Sekunde eine neue Flughöhe eingestellt: 100 Fuß (ca. 30 Meter). Sofort beginnt der Sinkflug, etwa acht Minuten später schlägt das Flugzeug in den Berg ein. Alle Insassen des Flugzeugs sterben.
Zuvor wird kein Notruf abgesetzt, es wird kein Problem gemeldet. Das Marseille-Kontrollzentrum versucht elfmal die Flugbesatzung zu kontaktieren, auch das militärische Verteidigungssystem versucht dreimal eine Kontaktaufnahme – vergebens. Ausgewertete Audioaufnahmen geben einen sekundengenauen Einblick in das Geschehen in den Minuten des Sinkflugs, das die französische Untersuchungsbehörde für Flugunfälle und Störungen BEA in ihrem Abschlussbericht beschreibt.
Demnach klopft der Kapitän an der Cockpit-Tür, bald wird aus dem Klopfen ein Hämmern. Im Cockpit hört man das ruhige Atmen des Co-Piloten. Etwa vier Minuten lang ertönt der Türsummer – das Zeichen, dass jemand draußen um Einlass bittet. Etwa 30 Sekunden länger klingelt das sogenannte Intercom, die Sprechanlage. Kein Anruf wird beantwortet. Vor der Kollision sind zahlreiche laute Warnsignale zu hören.
Nach Aufzeichnungen des Flugschreibers hat Andreas Lubitz offenbar bereits beim Hinflug nach Barcelona Änderungen der Flughöhe am Autopiloten vorgenommen. Die Ermittler interpretieren dies als eine minutiöse Vorbereitung und Übung für die spätere Tat.
Fragen über Fragen: Hinterbliebene und Experten sehen Ungereimtheiten
Nach Einschätzung von Experten und Angehörigen der Opfer hat der Untersuchungsbericht jedoch Lücken. "Das Problem dieser Untersuchung ist, dass sich schon relativ früh auf eine Ursache festgelegt worden ist, nämlich: ein durchgeknallter Copilot, der das Flugzeug in den Berg geflogen hat", sagt Luftfahrtexperte Tim van Beveren in der Doku. "Von daher geht jetzt alles zielstrebig nur noch in die Richtung: Was passt in dieses Muster?"
Die Staatsanwaltschaft hatte für die Hinterbliebenen bei einem Hearing drei Monate nach dem Absturz die Tonaufnahmen aus dem Flugzeug abgespielt und dabei sekundengenau das Gehörte erklärt. Ein Jahr nach dem Absturz gab es den Abschlussbericht der BEA – und dieser stellte laut Aussagen der Angehörigen den Verlauf an manchen Stellen anders dar.
So kam etwa nicht mehr vor, dass Lubitz einen Medikamentencocktail eingenommen haben soll. Auch eine gefundene Krankschreibung für den Zeitraum des Fluges war nicht Teil des Berichts. Der Kapitän soll während des Hämmerns an der Tür gerufen haben: "Andreas, mach die Tür auf!" Auch dies fehlte demnach im Abschlussbericht.
Der Luftfahrtjournalist Andreas Spaeth weist in der Sky-Doku darauf hin, dass aus dem Bericht zudem nicht hervorgeht, ob der Kapitän versucht hat, über eine Tastatur an der Tür mithilfe des Notfallcodes ins Cockpit zu gelangen.
Somit bleiben Fragen unbeantwortet: Hat er diese Möglichkeit oder gar den Code vergessen? Oder war die Tastatur defekt?
Sowohl der Luftfahrtexperte Tim van Beveren als auch Simon Hradecky bekamen unabhängig voneinander einen anonymen Hinweis, dass es bereits auf einem früheren Flug der Maschine ein Problem mit dem Notfallcode gegeben haben soll. Damals habe sich die Crew bereits einmal ausgesperrt. Laut Hradecky soll die Taste mit der Ziffer 2 nicht funktioniert haben. "Damit war klar, dass der Notfallcode gar nicht eingegeben werden konnte. Die Taste 2 war Bestandteil des Notfallcodes", sagt er in der Doku.
Was hat es mit der Einstellung der Flughöhe und dem ruhigen Atem des Co-Piloten auf sich?
Den Experten sind noch weitere Ungereimtheiten aufgefallen. So steht im Abschlussbericht, dass die Flughöhe des Autopiloten innerhalb von einer Sekunde neu eingestellt wurde. Tim van Beveren erstellte im Auftrag der Familie Lubitz ein Gutachten.
Der Luftfahrtexperte hält fest: Die Flughöhe kann demnach nicht innerhalb von einer Sekunde umgestellt werden. Denn für diese Einstellung muss man an einem Drehknopf "mehrere Male umgreifen und ziehen", wie van Beveren erklärt. In einem Flugsimulator, der in der Doku zu sehen ist, wird klar: Innerhalb von einer Sekunde lässt sich der Drehknopf tatsächlich nicht einstellen – zumindest nicht von Menschenhand.
Auch der ruhige Atem des Co-Piloten wirft Fragen auf. Andreas Lubitz soll mehrmals in psychiatrischer Behandlung gewesen sein, mit dem absichtlichen Flugzeugabsturz hat er laut den Behörden Suizid begangen – und 149 weitere Menschen mit in den Tod gerissen.
Laut Thomas Bronisch, Facharzt für Psychiatrie, könnte sich Lubitz in einem wahnhaften Zustand befunden haben. In einer solchen Situation könnten Menschen "ganz ruhig bleiben", Geräusche in ihrer Umgebung ausblenden und es würden sich "keine wesentlichen Veränderungen im Herz und Kreislauf" ergeben. So lässt sich der ruhige Atem erklären – doch auch eine andere Theorie ist möglich. Laut Tim van Beveren, der einen Anästhesisten um eine Einschätzung bat, kann eine solche Atemfrequenz wie auf der Audioaufnahme auch eintreten, wenn man bewusstlos ist.
Eine Bewusstlosigkeit kann etwa durch verunreinigte Kabinenluft ausgelöst werden, wie Journalist und Luftfahrtexperte Andreas Spaeth erklärt. Er erzählt von einem Hintergrundgespräch bei Lufthansa mit zwei Piloten, die einige Monate vor dem Germanwings-Absturz in einem Germanwings-Airbus-320 im Anflug auf Köln-Bonn handlungsunfähig geworden seien. Schuld war demnach verunreinigte Kabinenluft – verbrennende Ölrückstände aus dem Triebwerk gelangten in die Kabine.
"Es gibt immer wieder solche Vorfälle und es gibt eine Vielzahl beschriebener Symptome, von Kribbeln bis Taubheitsgefühl bis zu einer partiellen Handlungsunfähigkeit", sagt Spaeth. "Diese Fälle gibt es und werden gerne von der Luftfahrtbranche beziehungsweise den Herstellern unter den Teppich gekehrt." Tim van Beveren ergänzt: "Germanwings war eine der Airlines, die die meisten Fume Events (Rauchereignis, Verunreinigung der Kabinenluft, Anm. d. Red.) verzeichnet hat." Doch Beweise, dass dies auch bei Flug 9525 der Fall war, gibt es nicht.
Die Theorie des technischen Defekts
In seiner achtjährigen Untersuchung hat Hradecky noch eine weitere Theorie entwickelt, aufbauend auf der Annahme, dass der Co-Pilot im Cockpit außer Gefecht gesetzt war. "Wenn der Mensch im Cockpit nicht handlungsfähig war und niemand mehr aufgrund der defekten Cockpit-Tastatur ins Cockpit gelangen konnte, konnte nur ein technischer Defekt den letzten Sinkflug von 38.000 auf 100 Fuß ausgelöst haben", sagt er in der Doku.

Den möglichen technischen Defekt erklärt Hradecky folgendermaßen: Die Flight Control Unit (zu Deutsch: Flugsteuerungseinheit) besteht im Wesentlichen aus zwei Computern. Der erste Computer führt die Steuerung der automatischen Flugsysteme aus. Ist dieser jedoch defekt, werden wichtige Daten nicht an den zweiten Computer übermittelt, der nun die Steuerung übernimmt.
"Der Computer zwei ist im Ausgangsmodus noch auf 100 Fuß eingestellt und so gelangen die 100 Fuß zum Autopiloten. Der Autopilot übernimmt diese falschen Informationen und leitet ohne menschliches Eingreifen einen Sinkflug ein."
Klingt erst mal logisch, doch durch was wurde der technische Defekt ausgelöst? Darüber "müsste ich spekulieren", sagt Hradecky.
Und wie passt das dazu, dass Lubitz bereits beim Hinflug versucht haben soll, die Flughöhe zu verringern? In den Aufzeichnungen der Flughöhe sind laut Hradecky Ausschläge zu sehen, die immer wieder korrigiert werden. Er sieht darin die Versuche des Piloten, den technischen Defekt auszugleichen. Es könnte also sein, dass bereits hier technische Probleme auftraten, die vor dem Rückflug nicht behoben wurden, so die Theorie.

Wirklich Aufschluss geben könnten wohl nur die Daten des Flugschreibers und des Voice Recorders, die die französischen Behörden auch zehn Jahre nach dem Absturz unter Verschluss halten und nicht herausgeben.
Wurden technische Geräte nachträglich zerstört?
Angehörige kritisieren, dass in an sich noch intakten technischen Geräten der Opfer aus dem Flugzeug keine Daten mehr zu finden gewesen seien. Der Vater einer getöteten Passagierin sagt: "Es gab genügend technische Geräte, die waren äußerlich unversehrt und innendrin waren die Platinen rausgelötet oder bewusst mechanisch zerstört." Eine beauftragte Firma, die auf die Wiederherstellung von Daten zerstörter Geräte spezialisiert ist, habe festgestellt, "dass die Daten nicht zerstört wurden, sondern bewusst gelöscht wurden".
Elmar Giemulla, Luftfahrtexperte und Anwalt vieler Hinterbliebenen, ist der Ansicht: "Wir werden hier betrogen. Hier werden uns Dinge verheimlicht, hier werden Dinge falsch wiedergegeben, aus welchem Grund auch immer."
Er glaubt an eine Erkrankung von Lubitz, "aber das ist nur ein Teil der Wahrheit und ein anderer Teil ist verborgen", sagt Giemulla. "Das ist in jeder Hinsicht nicht akzeptabel."
Keine Stellungnahmen von offizieller Seite
Es gibt – wie in der Doku – nicht nur Zweifel an der Untersuchung der Behörden, sondern auch an den Theorien der Experten in der Sky-Doku. Der für den Fall zuständige deutsche Staatsanwalt Christoph Kumpa teilte Sky mit, dass er keine Hinweise auf sogenannte Fume Events erhalten habe.
Die Staatsanwaltschaft in Deutschland habe auch keine Kenntnis von einem angeblichen Defekt der Cockpit-Tür. In einem Interview mit dem österreichischen Luftfahrtmagazin "Austrian Wings" erhebt Kumpa sogar schwere Vorwürfe: "Ich habe den Eindruck, dass die von Ihnen angesprochene Sky-Dokumentation (…) dazu dient, Verschwörungstheorien zu verbreiten."
Airbus und Lufthansa teilten der "Zeit" mit, der Absturz sei "ausführlich untersucht" worden und Lufthansa habe "keinerlei Zweifel am Ergebnis der Untersuchung der BEA". Die französische Untersuchungsbehörde BEA, die französische Staatsanwaltschaft sowie Lufthansa, Airbus und die deutsche Flugunfalluntersuchungsbehörde BFU wiesen Interviewanfragen und Stellungnahmen von Sky zurück. So stützt sich die Doku etwa für die Nachstellung der Audioaufnahmen aus dem Flugzeug auf Erinnerungen der Hinterbliebenen, denen die Originalaufnahmen vor zehn Jahren vorgespielt worden waren.
Was von der Doku bleibt? Eine Menge offener Fragen. Ganz wird der Absturz des Germanwings-Flugs 9525 wohl nie aufgeklärt werden.
Hilfsangebote
- Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person von Suizid-Gedanken betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge unter der Telefonnummer 0800/1110-111 (Deutschland), 142 (Österreich), 143 (Schweiz).
- Anlaufstellen für verschiedene Krisensituationen im Überblick finden Sie hier.
Verwendete Quellen
- Sky-Dokumentation "Germanwings – Was geschah an Bord von Flug 9525?"
- Austrianwings.info: Das große Interview - Staatsanwalt zu Germanwings-Absturz: "Kein Zweifel an Lubitz' Verantwortung"
- Zeit.de: Wahrheit in Trümmern