Nur wenige Monate nach dem blutigen Anschlag auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" und einen jüdischen Supermarkt wird Frankreich von einem neuen Attentat erschüttert. Ein Mensch kam dabei ums Leben, mehrere Personen wurden verletzt. Für die offenbar islamistisch motivierte Tat soll ein 35-Jähriger verantwortlich sein, der dem französischen Geheimdienst DGSI bereits bekannt war. Der Angriff stellt Frankreich vor dieselben Fragen, die schon im Januar die Gesellschaft bewegten: Wie konnte so etwas passieren? Frankreichkennerin Ronja Kempin von der Stiftung "Wissenschaft und Politik" hat darauf einige Antworten
Frau Kempin. Wieder wird ein junger Mann mit dem jüngsten Attentat in der Nähe von Lyon in Zusammenhang gebracht. Offensichtlicht war die Tat islamistisch motiviert. Woher kommt dieser Hass, der Jugendliche und junge Männer zu solchen Taten treibt?
Ronja Kempin: Das ist eine Frage, die die Franzosen ebenfalls sehr stark umtreibt. Seit den Anschlägen auf "Charlie Hebdo" befasst sich Frankreich sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Politik damit, wie es zu dieser Radikalisierung kommen konnte. Der Hintergrund ist folgender: Seit dem vergangenen Jahr hat sich die Zahl dschihadistischer Jugendlicher verdreifacht. Die Behörden gehen von 1.775 jungen Franzosen aus, die sich radikalisiert haben. Die Frage, warum sich gerade junge Leute radikalisieren, ist eine, die derzeit zu kontroversen Debatten führt. Aber es gibt noch keine Antworten darauf.
Aber wieso dieser massive Anstieg gerade im vergangenen Jahr?
Auf der einen Seite sind das ganz klassische Gründe. Das Gefühl der Perspektivlosigkeit ist groß, denn besonders unter Jugendlichen ist die Arbeitslosenquote hoch. Zugleich ist das System kaum durchlässig, die Perspektiven für einen sozialen Aufstieg sind insbesondere für Menschen mit Migrationshintergrund sehr schwierig. Aufgrund seiner kolonialen Vergangenheit haben viele Franzosen Verbindungen zu muslimischen Ländern wie dem Libanon oder Libyen - Länder, in denen derzeit große Unruhen herrschen. All das trägt dazu bei.
Und warum wendet sich der Hass dieser Menschen gegen Frankreich – dem Land, in dem viele von ihnen geboren und aufgewachsen sind?
Frankreich ist ein Land, das eigentlich stolz darauf ist, laizistisch zu sein, also keine Religion zu bevorzugen. In Deutschland gibt es keine Trennung von Kirche und Staat, während dieses Prinzip sich in Frankreich schon 1905 durchgesetzt hat. Trotzdem ist es offensichtlich nicht gelungen, den Islam in die französische Kultur einzubinden.
Man fühlt sich also mehr der eigenen Religion zugehörig als dem Land, in dem man geboren ist?
Es geht vor allem darum, welche Perspektive man in dem Land hat, in dem man lebt. Bei Franzosen der zweiten Generation, also deren Eltern einen Migrationshintergrund haben, ist die Jugendarbeitslosigkeit immer noch deutlich höher als bei "weißen" Franzosen. Die Gesellschaft lebt segregiert: Eine Durchmischung der gesellschaftlichen Schichten findet eigentlich nicht statt. Sie leben nach ethnischer und sozialer Herkunft getrennt. Das fördert natürlich das Gefühl, ausgeschlossen zu sein.
Die Betroffenen suchen sich also eine neue Gemeinschaft, in der sie sich aufgehoben fühlen. Aber die könnten sie ja auch im gemäßigten Islam finden. Warum der Fundamentalismus?
Das kommt durch eine Doppelwirkung: Einerseits durch das Gefühl, außen vor zu sein - auf der anderen Seite stammen die Familien ursprünglich aus Ländern wie Syrien, Libyen, dem Libanon oder Schwarzafrika. Das sind alles Staaten, in denen Frankreich auch militärisch beteiligt ist. Viele haben damit das Gefühl, nicht nur im Inneren des Staates, also der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein. Aus ihrer Sicht geht der Staat auch noch gegen Muslime im Ausland vor. Frankreich engagiert sich ja sehr stark im Kampf gegen den IS an der Seite der USA. Das kann sicherlich dazu beitragen, dass sich Leute mit einer Tendenz schneller radikalisieren.
Kann man die Tat in Lyon diesem Zusammenhang von mit dem gestrigen Anti-Terror-Gesetz in Verbindung bringen?
Das steht sicher im Zusammenhang mit heute. Das Gefühl, in die Ecke der Gesellschaft gedrängt zu werden, nimmt dadurch zu, und damit auch die Radikalisierung.
Warum werden junge Franzosen gerade vom IS derart angezogen?
Der Islamische Staat lehnt die Werte der westlichen Gesellschaft stark ab, gleichzeitig tritt er sehr martialisch auf. Das erscheint den an den Rand ihrer eigenen Gesellschaft gedrängten Jugendlichen attraktiv: Weil sie plötzlich in eine vermeintlich machtvolle Position geraten, wenn sie sich dem IS anschließen. Denn der kann noch immer Erfolge verbuchen und breitet sich immer weiter aus. Das sind übrigens keine spezifisch französischen Gründe – sie könnten genauso auf deutsche Jugendliche zutreffen.
Ist Deutschland damit ähnlich von Terroranschlägen bedroht wie Frankreich?
Wir erleben immer wieder, dass in Deutschland Anschläge vereitelt werden. Die Gefahr ist bei uns also gegeben – zu jeder Zeit.
Sind die gesellschaftlichen Strukturen in Deutschland denn mit denen in Frankreich zu vergleichen? Ziehen wir potenzielle Terroristen durch den Ausschluss aus der Gesellschaft in unserem Land heran?
Ich würde sagen, dass die gesellschaftlichen und politischen Strukturen in Deutschland im Vergleich zu Frankreich sehr viel durchlässiger sind. Das beweist die politische Elite unseres Landes: Da gibt es sehr viele Verantwortungsträger, die zwar zumeist hier geboren, aber deren Eltern keinen deutschen Hintergrund haben. Sie sind als Arbeitsmigranten oder Kriegsflüchtlinge nach Deutschland gekommen. Offensichtlich herrscht in der deutschen Bevölkerung ein geringeres Maß an Angst vor Überfremdung.
Sprechen Phänomene wie Pegida nicht dagegen?
Es kommt zwar immer wieder zu Protesten – durch Pegida und andere. Aber bei uns spielen Parteien wie der Front National (FN) in Frankreich nicht so eine große Rolle, sie erleben nicht so einen großen Zulauf. Der FN hat sich im politischen System etablieren können. Und das, obwohl die fremdenfeindlichen Äußerungen nicht nachgelassen haben.
Ist Ausländerhass damit auf dem Weg, gesellschaftsfähige zu werden?
Die französische Gesellschaft glaubt zumindest nicht mehr an der Fähigkeit der etablierten Parteien, die Probleme des Landes lösen zu können. Die Stimmungslage in Frankreich lässt die Stigmatisierung von Ausländern zu. Die Tatsache, dass der FN gewählt wird, bestätigt das.
Statt an dieser Diskriminierung in der eigenen Gesellschaft zu arbeiten, greift Frankreichs Regierung ja eher zu harten Maßnahmen im Kampf gegen den Terrorismus. Ist das die richtige Antwort?
Der französische Staat versucht mit harter Hand, der Verstärkung der Anti-Terror-Gesetze, mögliche zukünftige Attentäter abzuschrecken. Eine solche Strategie muss meiner Meinung nach aber mit einer des sozialen und gesellschaftlichen Dialogs einhergehen. Mit anderen Worten: Man muss diesen Menschen einen Platz in der Gesellschaft zurückgeben. Sie müssen sich als Teil von ihr fühlen können. Statt ihnen mit harter Hand zu begegnen, sollte man das Gespräch mit ihnen suchen. Verstehen, warum sie sich ausgeschlossen fühlen. Da ist meiner Ansicht nach zu wenig getan worden in der Vergangenheit.
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