Wieder sind Frauen in Indien Opfer brutaler Gewalt geworden: Im Bundesstaat Uttar Pradesh sollen eine Mutter und ihre Tochter im Teenageralter von mehreren Männern vergewaltigt worden sein. Das teilten die Behörden in Neu-Delhi am Sonntag mit. Maja Wegener, Fachbereichsleiterin beim Verein "Terre des Femmes – Menschenrechte für die Frau" spricht im Interview über die schwierige Situation vieler Frauen in Indien.
Frau Wegener, warum werden Frauen in Indien immer wieder Opfer schwerer Gewalttaten?
Maja Wegener: Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die indische Gesellschaft Frauen als minderwertig ansieht. Das zeigt sich nicht nur darin, dass weibliche Föten häufig abgetrieben beziehungsweise Mädchen nach der Geburt erstickt werden. Auch häusliche Gewalt ist in Indien an der Tagesordnung – und gesellschaftlich legitimiert. Die Polizei behandelt häusliche und sexualisierte Gewalt meist als Bagatellen.
All diese Phänomene werden verstärkt von der extrem hohen Anzahl an Früh-Ehen: Betroffene Mädchen erhalten meist keinen Zugang zu Bildung und so entsteht ein Teufelskreis.
Passiert denn wirklich auffällig viel oder ist das nur unsere Wahrnehmung?
Laut dem indischen "National Crime Records Bureau" wurden 2013 mehr als 33.000 Frauen vergewaltigt. Aufgrund der gesellschaftlichen Ächtung vergewaltigter Frauen gehen wir aber von einer weitaus höheren Dunkelziffer aus.
Hinzu kommt, dass laut Amnesty International drei von vier wegen Vergewaltigung angeklagte Männer in Indien von Gerichten freigesprochen werden.
Ist eine Ursache für die grausamen Ereignisse Ihrer Meinung nach vor allem das unwürdige Frauenbild?
Es spielt eine wesentliche Rolle: Die Geschlechterungleichheit in Indien hat ihren Ursprung vor allem im privaten Raum. Viele Teile der Gesellschaft – auch Frauen selbst – halten den untergeordneten Status von Frauen aufrecht. Dass für viele – aber natürlich nicht für alle – indischen Familien ein Sohn mehr wert ist als eine Tochter, zeigt sich in der Verhätschelung von Jungen.
Die Männer bleiben bei einer Eheschließung in der eigenen Familie, während die verheiratete Frau in die Familie des Mannes zieht und dort gehorchen und dienen muss. Gleichzeitig gibt es aber auch indische Frauen, die hochgebildet sind und die Möglichkeit haben, ihre eigenen Wege zu gehen.
Die hinduistische Religions- und Sozialordnung teilt die Menschen hierarchisch in Kasten ein. Wie wirkt sich das auf die Taten aus?
Uns sind keine Zahlen darüber bekannt, wie sexualisierte Gewalt an Frauen von der Zugehörigkeit zu einer Kaste abhängt. Eher scheint es so, dass diese furchtbaren Taten Frauen unabhängig von ihrer Kastenzugehörigkeit treffen.
Im Dezember 2012 ist eine 23-Jährige in einem Bus in Delhi brutal vergewaltigt und gequält worden. Sie ist an den Folgen gestorben. Die Tat hat weltweit für Entsetzen gesorgt – danach wurden die Gesetze strenger.
Anfang 2013 wurde das indische Sexualstrafrecht in der Tat verschärft. Der Begriff der Vergewaltigung wurde weiter gefasst und ist nun nicht mehr an die Anwendung von Gewalt oder konkrete Drohungen gekoppelt, sondern lediglich an das fehlende Einverständnis der Frau.
Das ist zwar ein beachtlicher Fortschritt auf rechtlicher Ebene. Trotzdem besteht eine enorme Diskrepanz zwischen der Rechtslage und der praktischen Umsetzung durch Beamte der Justiz und der Polizei.
Setzen sich Organisationen vor Ort für die Rechte der Frauen ein?
Es gibt Hilfsangebote: Seit 2016 unterstützt der Verein "Terre des Femmes – Menschenrechte für die Frau" beispielsweise das Projekt Bhumika im Süden Indiens. Die Mitarbeiterinnen vor Ort beraten Frauen, leisten Aufklärungs- und Lobbyarbeit.
Damit stärken sie von Gewalt betroffene und benachteiligte Frauen in der Region Andhra Pradesh. Aber gerade im ländlichen Raum gibt es definitiv nicht genug Unterstützung.
Was muss sich Ihrer Meinung nach verändern, damit Frauen in Indien weniger Gefahren ausgesetzt sind?
In weiten Teilen der Gesellschaft, unabhängig von Kasten und Schichten, muss unglaublich viel getan werden, um das Frauenbild zu verändern: Politik, Polizei und Gerichte müssen in die Verantwortung genommen werden. Aber auch die Gesellschaft im Ganzen: Denn diese grausamen Taten sind in weiten Teilen der Gesellschaft legitimiert.
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