• "Das Leid nimmt auch gar kein Ende", sagt Malu Dreyer über die Hochwasserkatastrophe im Westen Deutschlands.
  • Die Situation bleibt angespannt, das Ausmaß der Zerstörung wird immer klarer.
  • Mindestens 106 Menschen sterben, Hunderte werden vermisst, mehr als 100.000 haben keinen Strom.

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Braun und ölig ergießt sich Wasser von einer Straße in einen riesigen Schlund in Erftstadt unweit von Köln. Die Straße: einfach abgebrochen. Die Häuser: zum Teil eingestürzt. Eine weiße Gardine wiegt noch im Wind, fast bis zur Hälfte ist sie braungefärbt. Ein stummes Zeugnis dramatischer Stunden, in denen die Flut durch den Stadtteil Blessem schwappte.

Die Hochwasserkatastrophe im Westen Deutschlands bringt Chaos, Verwüstung und Leid. Ihr genaues Ausmaß kann noch nicht abgeschätzt werden. Klar ist: Mehr als 100 Menschen haben in NRW und Rheinland-Pfalz ihr Leben verloren. Die Zahlen werden noch weiter steigen, wird befürchtet. Zahlreiche Menschen werden vermisst. Viele, viele andere stehen vor den Trümmern ihrer Existenz.

In Erftstadt werden Häuser mitgerissen und verschwinden. Bis zum Freitagnachmittag war unklar, wie viele Opfer es gab. Die Lage war extrem unübersichtlich. Die Flut sei schnell gekommen, sagt Landrat Frank Rock (CDU). Es habe kaum Zeit gegeben, die Menschen zu warnen. Aus der Luft sind Erdrutsche von gewaltigem Ausmaß zu sehen. "Es ist eine katastrophale Lage, wie wir sie hier noch nie hatten", sagt der Landrat.

Anwohner versuchen Retter mit Schreien auf sich aufmerksam zu machen

Nur wenige Schritte entfernt von der Abbruchkante steht Karl Berger vor seinem Geburtshaus. Er ringt um Fassung. "Dieses Riesenloch", sagt er, dann kippt die Stimme. Er kenne viele Menschen, die dort lebten. Am Donnerstag sei die Erft - eigentlich "ein juter Fluss" - stetig angeschwollen.

Die Rettungsarbeiten sind schwierig: Menschen werden mit Booten vom Wasser aus gerettet. Die Situation ist unübersichtlich. Mit Schreien versuchen einige Anwohner laut Fernsehberichten, Retter auf sich aufmerksam zu machen. Er habe noch keine konkrete Zahl über Todesopfer oder Vermisste, sagt Rock. In der Nähe stürzen Teile der gesperrten Autobahn 1 in den Fluss.

Kreis Euskirchen: Steinbachtalsperre droht ein Durchbrechen des Staudamms

Mehr als 20 Städte und Kreise sind in NRW von Überschwemmungen betroffen. Die Rurtalsperre hatte gegen Mitternacht begonnen, infolge der immensen Regenmengen überzulaufen. Zumindest hier gibt es etwas Entwarnung. Der Wasserverband Eifel-Rur spricht von einer "geringen Dynamik". Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet sagt: "Die Staudämme der Talsperren in Nordrhein-Westfalen sind, mit Ausnahme der Steinbachtalsperre, stabil und unbeschädigt." An der Steinbachtalsperre im Kreis Euskirchen droht ein Durchbrechen des Staudamms. Mehrere Ortschaften im Bereich des Sees wurden deshalb evakuiert.

Armin Laschet (CDU) spricht von einer "Flutkatastrophe von historischem Ausmaß". Es stehe zu befürchten, dass die Opferzahlen weiter steigen werden. "Die Fluten haben vielen Menschen buchstäblich den Boden unter den Füßen weggezogen."

Die Bilder machen die Kraft der Naturgewalten deutlich: Wo eine Einkaufsstraße war, fließt auf einmal ein Fluss. Wie umhergeworfenes Spielzeug liegen Fahrzeuge in der Landschaft. Manche Häuser sind zur Hälfte weggespült wie Kartenhäuschen - oder verschwunden. Nach wie vor sind viele Haushalte ohne Strom, Orte sind nicht zu erreichen, der Bahnverkehr ist enorm eingeschränkt.

Wo das Wasser zurückgeht, werden Tote gefunden

In Rheinland-Pfalz haben vielerorts die Aufräumarbeiten begonnen. Menschen räumten herausgespültes Hab und Gut aus dem Schlamm. Das Entsetzen im Land ist groß. "Das Leid nimmt auch gar kein Ende", sagt die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) beim Besuch der Leitstelle der Berufsfeuerwehr in Trier am Freitagmorgen. Da das Wasser überall zurückgehe, würden nun Menschen gefunden, die bei der Katastrophe ertrunken seien. "Und da könnte man eigentlich nur noch weinen. Das ist ein Horror", sagt Dreyer. Mehr als 60 Opfer sind zu beklagen.

In dem von der Hochwasserkatastrophe besonders getroffenen Ahrtal sind weiter Hubschrauber und Boote unterwegs und retten Menschen. Die Helfer finden in den braunen Fluten auch immer wieder Tote und bergen sie.

"Das Wasser drang innerhalb einer Minute bis an die Decke"

In Sinzig etwa können sich zwölf Bewohner einer Einrichtung für behinderte Menschen nicht mehr retten und sterben. "Das Wasser drang innerhalb einer Minute bis an die Decke des Erdgeschosses", sagt der Geschäftsführer des Landesverbands der Lebenshilfe Rheinland-Pfalz, Matthias Mandos. Die Nachtwache habe es noch geschafft, mehrere Bewohner in den ersten Stock des an der Ahr gelegenen Wohnheims zu bringen. "Als er die nächsten holen wollte, kam er schon zu spät."

Tausende Helfer sind in beiden Ländern unterwegs. Andere Bundesländer schicken Unterstützung. Bei der Bewältigung der Hochwasser-Katastrophe helfen rund 900 Soldatinnen und Soldaten. Zum Einsatz kommen etwa Hubschrauber, Räumpanzer, Krankenwagen, Boote, Truppentransport-Panzer und eine Fähre. Das Technische Hilfswerk (THW) hat in beiden Bundesländern insgesamt mehr als 2.000 Helfer im Einsatz. Sie retten Menschen, evakuieren Gebäude und verteilen Sandsäcke. Immerhin sanken in einigen Orten die Pegelstände. Es deutete sich leichte Entspannung an.

Auch die Bundesregierung sagte den Betroffenen Hilfe zu. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will die Gebiete besuchen. Die Katastrophe mache ihn fassungslos, sagt er. In Gedanken sei er bei den Hinterbliebenen der Opfer. "Ihr Schicksal trifft mich ins Herz."

In Erftstadt bleibt die Lage angespannt. Die Dämme müssen halten. Und dann muss aufgeräumt werden. Karl Berger erzählt, dass in einem Teich weiter hinten einst mal gut 20 Koi-Karpfen von "stattlicher Länge" schwammen. Bis das viele Wasser kam. "Da haben wir jetzt fünf Stück wieder gefunden." Irgendwo muss man ja jetzt wieder anfangen. (Jonas-Erik Schmidt, Jens Albes und David Langenbein/dpa/ash)

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