Zwischen Indien und westlichen Staaten hat sich eine rege Reisediplomatie entwickelt. Das liegt nur vordergründig am G20-Vorsitz Indiens. Vieles spricht dafür, dass Indien zur globalen Macht aufsteigen könnte.
Es war ein Empfang, wie er sonst nur wenigen Staatschefs zuteilwird: Als Indiens Premierminister Narendra Modi im Juni zum Staatsbesuch nach Washington einflog, empfing ihn US-Präsident Joe Biden nicht nur mit einem üppigen Staatsbankett. Auch die Vorsitzenden der beiden Kammern – Kongress und Repräsentantenhaus – luden Modi dazu ein, vor den Abgeordneten eine Rede zu halten. Es war bereits das zweite Mal in seiner Amtszeit und ein Privileg, das zuvor nur wenige Staatschefs hatten.
Überhaupt scharten sich westliche Regierungschefs in den vergangenen Monaten auffällig intensiv um den indischen Premier: Bundeskanzler
Die Charmeoffensive westlicher Staatschefs mag vordergründig an tagespolitischen Begebenheiten liegen: etwa an der ambivalenten Haltung Indiens zum russischen Angriff auf die Ukraine. So hat der Westen die Hoffnung, dass Modi auf
Außerdem standen bei den Gesprächen in Washington und Paris wichtige Rüstungs- und Technologiedeals auf dem Plan, wie etwa der Verkauf von Kampfjet-Triebwerken und hochfliegenden Drohnen der USA an Indien. Und anlässlich seines Vorsitzes bei den G20 kommt Indien in diesem Jahr ohnehin eine besondere politische Rolle zu.
Indien als Gegenprogramm zum autoritären und erschlaffenden China
Dennoch lässt die intensive Reisediplomatie zwischen dem Westen und Neu-Delhi darauf schließen, dass auch die Analysten in den westlichen Regierungszentralen ein "indisches Jahrzehnt" für nicht völlig abwegig halten. In jedem Fall nimmt der Westen das aufstrebende Land aktuell als Alternative zu einem abgeschotteten, autoritären und wirtschaftlich erschlaffenden China wahr.
Verbunden ist dieser Aufstieg zumindest symbolisch mit einer Zahl, die die Vereinten Nationen im Frühjahr veröffentlicht haben. Mit 1,428 Milliarden Menschen, so haben es die Statistiker der UN berechnet, dürfte die größte Demokratie der Welt im Frühjahr China als bevölkerungsreichstes Land abgelöst haben. Eine endgültige Bestätigung steht noch aus, doch spätestens mit Indiens Zensus im kommenden Jahr wird die Zahl wohl amtlich werden.
Zwar ist der Spitzenplatz auf der Bevölkerungsskala noch kein Wert an sich. Doch Organisationen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) beobachten schon länger, dass sich parallel zum Wachstum der indischen Bevölkerung auch ein Anstieg der gut ausgebildeten und konsumfreudigen Mittelschicht vollzieht.
So wächst die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter nach Schätzungen des IWF jährlich um zehn Millionen Menschen. Die Quote der vom Staat abhängigen Menschen gemessen an der Zahl der Erwerbsfähigen bis 2030 dürfte zudem deutlich unter jener von China oder den USA liegen.
Standortfaktoren wie ein steigendes Bildungsniveau, ein nahezu unerschöpfliches Reservoir englischsprachiger und gut ausgebildeter Fachkräfte sowie eine Modernisierung der Infrastruktur sorgen dafür, dass immer mehr internationale Konzerne ihre Direktinvestitionen nach Indien lenken. Das gilt insbesondere für Unternehmen aus dem südasiatischen Raum, die bislang Produktionsbasen in China unterhalten, und potenziellen Regulierungen, Sanktionen und Lieferkettenunterbrechungen mit einem Umzug nach Indien aus dem Weg gehen können.
Apple-Chef Tim Cook, der im April den ersten Apple-Store in Indien eröffnet hat, lobte unlängst vor Investoren "Marktdynamik" und "Lebendigkeit" in dem Land und sah Indien an einem "Wendepunkt". Wenige Tage später machte Foxconn, ein taiwanesisches Elektronikunternehmen und einer der wichtigsten Apple-Zulieferer, den ersten Spatenstich für eine 500 Millionen Dollar teure Fabrik.
Demografie begünstigt Indiens erfolgreiche Entwicklung
Die Investmentbank Goldman Sachs schätzt inzwischen, dass das indische Bruttoinlandsprodukt aufgrund der Bevölkerungsentwicklung bis zum Jahr 2051 zur Eurozone und bis 2075 zu den USA aufgeschlossen haben dürfte. Dafür unterstellen die Statistiker ein Wachstum von 5,8 Prozent in den kommenden fünf und 4,6 Prozent in den 30er-Jahren. Werte, die nicht unrealistisch sind, wenn man bedenkt, dass Indiens Wachstum mit einigen Schwankungen seit Ende der 2000er-Jahre bei durchschnittlich sieben Prozent lag.
Als Treiber der Entwicklung nennt die Bank die günstige Demografie Indiens sowie eine alternde sowie weniger stark wachsende Bevölkerung in Europa.
Aufstieg zur (ökonomischen) Weltmacht
Mit dem ökonomischen Aufstieg zur Weltmacht vollzieht sich auch ein neues politisches Selbstbewusstsein der Modi-Regierung, erklärt Adrian Haack, Leiter des Indien-Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung. "Indien hat in der Vergangenheit kaum Akzente auf internationaler Ebene gesetzt – das ändert sich gerade", sagt Haack. "Mittlerweile ist Indien das bevölkerungsreichste Land der Welt und die fünftgrößte Volkswirtschaft, sodass wir eine Phase erleben, in welcher die Modi-Regierung Indien als globalen Player etablieren möchte."
Als Beispiel nennt der Politologe die indische Präsidentschaft der G20, die Premierminister Modi erklärtermaßen dazu nutzen will, den "ungehörten Stimmen" des Globalen Südens Gehör zu verschaffen. Die enge Verzahnung zwischen Afrika und Indien lässt sich schon jetzt etwa an den tausenden afrikanischen Studenten erkennen, die Jahr für Jahr Stipendien an indischen Universitäten erhalten. Zudem ist Indien nach China inzwischen Afrikas wichtigster Handelspartner.
Und in Zukunft soll der Kontinent auch ein vielversprechender Absatzmarkt für den Aufbau der jungen indischen Rüstungsindustrie werden. Das Vertrauen speist sich aber auch historisch, wie Haack erklärt: "Indien besitzt wegen seiner eigenen kolonialen Geschichte und seiner positiven wirtschaftlichen Entwicklung eine große Glaubwürdigkeit gerade in Afrika und Südasien."
Im Westen fällt das offensivere Auftreten des historisch blockfreien Indiens auf Wohlwollen. Zum einen sehen die USA Indien als Brückenbauer zu Entwicklungsländern, was ein Grund dafür sein dürfte, dass
Modi will sich nicht in westliche Ordnung eingliedern
Auf weniger Zustimmung stößt hingegen die Tatsache, dass sich Indien bei internationalen Institutionen eher als Gegenpol zum Westen sieht. Viele Regeln der gegenwärtigen Weltordnung sind aus indischer Sicht diskriminierend und dienen dazu, die Hegemonie und Interessen der westlichen Industriestaaten im internationalen System zu bewahren.
Seit Jahren fordert Indien daher einen Platz im Sicherheitsrat der UN. Der G20-Vorsitz wurde in dieser Hinsicht zwar als Kompromissangebot gewertet, eine dauerhafte Antwort auf die Ambitionen Indiens in dem wichtigen UN-Gremium ist er aber wohl nicht. Der ehemalige indische Topdiplomat Kanwar Sibal betonte schon 2012 in einem Aufsatz, Indien wolle "nicht einfach in die existierende internationale Ordnung, die vom Westen kontrolliert wird, kooptiert werden. Es muss vielmehr selbst seinen rechtmäßigen Platz finden und eine Position einnehmen, die es erlaubt, Regeln zu ändern, anstatt einfach bereits existierenden Regeln zu folgen".
In einem Interview mit der "New York Times" unterstrich zuletzt auch der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar, dass er die Weltordnung für zu sehr westlich dominiert hält. An dieser Stelle dürfte das Land die Daumenschrauben mit zunehmendem Einfluss anziehen. "Indien versteht sich als eigener Pol", sagt KAS-Experte Haack.
Fallstricke auf dem Weg zum "indischen Jahrzehnt"
Trotz der für Indien aussichtsreichen Entwicklung gibt es auch Fallstricke, die darüber entscheiden, ob dieses Jahrzehnt tatsächlich "das indische" wird. Da wären zum einen die andauernden Gebietsstreitigkeiten mit der Atommacht Pakistan, die regelmäßig zu Grenzzwischenfällen führen und jederzeit in einen Flammenherd umschlagen können. Eine militärische Eskalation wäre nicht nur menschlich und politisch verheerend, sondern auch Gift für das Vertrauen internationaler Investoren in das Land. Ähnliches gilt für die Präsenz Chinas im Indischen Ozean, die immer wieder zu sicherheitspolitischer Besorgnis in Delhi führt.
Zudem muss es der Modi-Regierung gelingen, das Wirtschaftswachstum dauerhaft aufrechtzuerhalten, um die auf den Arbeitsmarkt strömende Bevölkerung in Lohn und Brot zu bringen – sonst kann die demografische Entwicklung schnell zur Armutsfalle werden. Nach wie vor haben der Weltbank zufolge mehr als 80 Prozent der Inder weniger als 6,85 Dollar am Tag zur Verfügung, ein Zehntel sogar weniger als 2,15. Sollte Modi die Armut nicht in den Griff bekommen, sind soziale Unruhen vorprogrammiert.
Insgesamt, sagt KAS-Experte Adrian Haack, könnte ein Aufstieg Indiens zur Weltmacht für den Westen jedoch vor allem im Gegensatz zu China und Russland positive Effekte mit sich bringen: "Bisher hat Herr Modi nie den Eindruck erweckt, als großer Feldherr in die Geschichtsbücher eingehen zu wollen. Dass ein Regierungschef eines so großen Landes keine Macht-Fantasien entwickelt, ist nicht selbstverständlich - Modi ist nicht wie Xi oder Putin."
Verwendete Quellen:
- Goldman Sachs: How India could rise to the world’s second-biggest economy
- Weltbank: Fact Sheet. An Adjustment to Global Poverty Lines
- Kanwal Sibal: India’s Foreign Policy. Future Options
- Business Insider: India is at a 'tipping point' and a major focus for Apple, says Tim Cook
- Vereinte Nationen: India overtakes China as the world’s most populous country
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