Vor fünf Jahren hat ein Jugendlicher in Winnenden und Umgebung 15 Menschen und sich selbst erschossen. Wie geht der Ort heute mit der Katastrophe um? Ein Rückblick. Und ein Gespräch mit dem Oberbürgermeister der Stadt, Hartmut Holzwarth.
Auf einer Mauer liegt ein Blumenstrauß. Eben hat ihn ein Mann mittleren Alters abgelegt. Mitten in den Schlamm, im Hintergrund die Albertville-Realschule in Winnenden. Sämtliche Kameraleute stürzen sich am 11. März vor fünf Jahren auf das Motiv. Es zeugt von Trauer in der 27.000-Einwohnerstadt in Baden-Württemberg. Trauer, die wenige Stunden nach dem schrecklichen Amoklauf niemand in Worte fassen kann.
Wie haben Sie selber den 11. März 2009 erlebt?
Hartmut Holzwarth: An diesem Tag war ich noch nicht im jetzigen Amt. In Winnenden bin ich seit April 2010 Oberbürgermeister. Am 11. März 2009 war ich mit Kollegen anderer Städte auf einer Tagung. Die Nachricht zum Amoklauf erhielt ich am Handy am Vormittag von meiner Frau, die davon im Radio gehört hatte. Wir waren sehr bestürzt und haben in der Folge Kontakte nach Winnenden aufgenommen und die Ereignisse auch über die Medien genau verfolgt.
An einer Absperrung steht vor fünf Jahren auch eine junge Frau. Sie hat ihre Hände zusammen gefaltet, die Finger zittern. Im Jogginganzug steht die 15-Jährige da, das Gesicht ist bleich. "Ich habe Schreie gehört", sagt sie. Dann sei alles ganz schnell gegangen. Raus aus der Schule. Kurz darauf ging es mit einem Bus weiter in eine Turnhalle in der Nachbargemeinde. Die Schülerin wäre fast selbst zum Opfer geworden. "Der Täter hat wohl in den Räumen 304 und 305 geschossen, einer davon ist mein Klassenraum", sagt sie. "Aber ich hatte gerade woanders Unterricht." Jetzt hört sie schlagartig auf zu erzählen, hält ihre Hand vor ihren Mund. Sie wirkt abwesend und geschockt.
Wie blicken Sie heute mit dem Abstand von 5 Jahren auf das damals Geschehene?
Holzwarth: Es ist ein tiefer Blick in die Abgründe der menschlichen Existenz, der sich in so einem Moment öffnet. 15 Menschen, darunter neun ganz junge, wurden kaltblütig ermordet, 14 Personen wurden verletzt. Vor allem den Opferangehörigen, aber auch allen anderen an Körper und Seele Verletzten mutete die Tat des Tim K. sehr viel, zu viel zu. Umso bemerkenswerter, in welcher guten Weise viele der Betroffenen jeweils ihre eigenen Wege des Umgangs damit gefunden haben.
Die Glocken läuten und zwei Menschen fallen sich in die Arme. Mitten in der Fußgängerzone einer bisher fast unbekannten Kleinstadt im Schwäbischen. Winnenden trauert und kann die Tat nicht begreifen. Erklärungen hat am Tag nach der Katastrophe niemand parat. Entsetzen spricht aus den Gesichtern der Einwohner. 1500 sind am Abend zuvor in die katholische Kirche St. Karl Borromäus gegangen und haben einen Ökumenischen Gottesdienst gefeiert.
Wie gehen die Menschen heute mit den Folgen des Amoklaufes um?
Holzwarth: Grundsätzlich verschieden. Die Meinung, "das müsse endlich ruhen", gibt es, gab es schon 2009. Sie ist aber eine Mindermeinung geblieben. Sich erinnern, durch miteinander sprechen und sich austauschen, persönlich und auch gerade medial, ist nach wie vor sehr wichtig. Auch wie es weitergegangen ist und noch weitergeht für Betroffene. Aktuell auch mit einer Serie der Lokalzeitung. Einige Dutzend Menschen engagieren sich bei der Stiftung gegen Gewalt an Schulen, hervorgegangen aus dem Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden.
Normalität ist nun eine andere
Stellen Sie fest, dass eine Art Normalität eingekehrt ist oder wird es die nie geben?
Holzwarth: Eine sicherlich andere Normalität als vorher ist nun da. Denn jetzt gehören der Amoklauf und seine Folgen auch zur Identität der Stadt, als ein Teil von ihr. Ein wichtiger Teil, nur ein Teil, aber einer, der bleibt. Es bleibt daher auf Dauer auch alles ambivalent und man benötigt daher Vertrauen zueinander um es auszuhalten, wenn man nicht genügend Achtsamkeit erfährt oder vielleicht zu viel Achtsamkeit von einem erwartet wird.
Winnendener, die am Tag des Amoklaufes vor fünf Jahren nicht in der Kirche sind, gehen zur Albertville-Realschule. Sie tragen Blumensträuße oder Kerzen. Vor dem Tatort erstrahlt ein Lichtermeer, Plüschtiere sitzen zwischen den Kerzen. Es ist dunkel und doch taghell. Kamerateams haben ihre Nachtlager aufgeschlagen. Menschen beten und schütteln den Kopf. Es fließen Tränen. Dutzende haben sich zu einer nächtlichen Mahnwache vor dem Schulgebäude versammelt.
Wie bewerten Sie es, dass das Gebäude heute wieder als Schule genutzt wird?
Holzwarth: Es ist gut. Durch den Umbau und den Wiedereinzug der Schulgemeinschaft hat man dem Täter den Raum, den er quasi gewaltsam an sich riss, wieder abgenommen. Insbesondere die Nutzung der ehemaligen "Taträume" mit einem Gedenkraum, einer Schulbibliothek und einer Schülerfirma sind hierbei wichtige Elemente der "neuen" Albertville-Realschule. Sie sind zwar keine normalen Unterrichtsräume, aber gerade deshalb im "nun anderen" Schulalltag sehr wichtig.
Gedenkort "Zerbrochener Ring"
Was erinnert darüber hinaus in Winnenden heute an die Katastrophe vor fünf Jahren?
Holzwarth: Am Eingang der Realschule, für jedermann zugänglich, befinden sich seit 2012 Namensplatten für jeden an diesem Tag in Winnenden und Wendlingen ermordeten Menschen. In diesen Tagen entstand im Stadtgarten, unweit der Schule ein Gedenkort, der sogenannte "Zerbrochene Ring", ein Kunstwerk des Künstlers Martin Schöneich. Diesen öffentlichen Gedenkort richtete die Stadt Winnenden zum fünften Jahrestag für die Öffentlichkeit ein. Der stählerne Ring mit rund sieben Meter Durchmesser ist an einer Stelle unterbrochen und symbolisiert so die zerstörte Gemeinschaft. Zugleich liegt er nur auf einer Seite auf dem Boden, auf der anderen bäumt er sich in die Luft auf, gleichsam gegen die Gewalt, für eine bessere Zukunft. Auf der Innenseite sind die Namen der Ermordeten und ein Denkspruch zu lesen.
Jährlich gibt es interne Veranstaltungen an den Winnender Schulen. Eine öffentliche Gedenkveranstaltung der Stadt zur entsprechenden Uhrzeit am Vormittag des Jahrestages, außerdem finden ökumenische Gottesdienste statt. Ebenso jährlich eine Lichterkette des Jugendgemeinderats, die stark besucht wird. Ferner gibt es einen Nachsorge-Arbeitskreis, der seelsorgerische und soziale Belange Betroffener begleitet. Vortrags- und Konzertreihen und gerade in den vergangenen beiden Jahren sind mehrere Buch- und Filmprojekte mit mehr oder weniger lokalem Bezug entstanden.
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