Großbritannien ist im Ausnahmezustand. Seit dem tödlichen Messerangriff auf Kinder in Southport erschüttern fast täglich rechtsextreme Ausschreitungen das Land. Wie kam es dazu?
Brutale Angriffe auf Polizisten, Läden von Muslimen werden in Brand gesetzt, Plünderungen: Seit Tagen wird Großbritannien von rechtsextremistischen Ausschreitungen erschüttert. Dutzende Einsatzkräfte wurden verletzt. Die Polizei nahm bisher mehr als 400 Menschen fest, die ersten Hafturteile sind bereits verhängt.
Auslöser der Randale sind Falschmeldungen über den mutmaßlichen Täter bei einem Messerangriff auf Kinder in Southport nahe Liverpool, bei dem drei kleine Mädchen getötet wurden. Angeblich soll es sich bei dem mutmaßlichen Täter um einen irregulären Einwanderer mit muslimischem Namen handeln - doch beides ist falsch.
Der Verdächtige ist ein 17-Jähriger, der als Sohn ruandischer Einwanderer in Großbritannien geboren wurde. Aber ein Ende der Krawalle ist nicht in Sicht.
Wer sind die Randalierer?
Die Organisation Hope not Hate, die sich auf die Beobachtung rechtsextremistischer Gruppen in Großbritannien spezialisiert hat, berichtet von rechtsextremen Aktivisten, die bei den Ausschreitungen gesichtet wurden. Die Organisation spricht von dem womöglich schwersten rechtsextremen Gewaltausbruch in Großbritannien der Nachkriegszeit.
Nach Ansicht des Sicherheits- und Terrorexperten Peter Neumann vom King's College in London sind es aber nicht nur bekannte Rechtsextreme, die sich den Protesten und Krawallen anschließen. Darunter seien neben vielen jungen Männern und Fußball-Hooligans beispielsweise auch Frauen und ältere Menschen.
"Das ist nichts, was uns beruhigen sollte, sondern im Gegenteil. Es zeigt, dass offensichtlich Rechtsextreme einen Weg gefunden haben, weit über ihre eigene Filterblase hinaus Leute auf die Straße zu bringen", sagt der Experte im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.
Welche Rolle spielt das Internet?
Organisiert und befeuert werden die Krawalle in sozialen Medien wie Telegram und auf X. Dort werden etwa Listen mit Adressen der Ziele für die geplanten Proteste geteilt, die dann häufig in gewalttätige Ausschreitungen umschlagen.
Öl ins Feuer gießen Agitatoren wie der als Tommy Robinson bekannte Rechtsextremist Stephen Yaxley-Lennon und Lawrence Fox, ein früherer Moderator des rechtsgerichteten Nachrichtensenders GB News. Sie organisieren die Krawalle nicht, befeuern sie aber teils mit Falschnachrichten und geben der Bewegung Struktur, erläutert Neumann.
"Das ist schon etwas Neues. Also die Rolle von sozialen Medien, auch von Desinformation auf sozialen Medien, ist etwas, was wir in dieser Deutlichkeit eigentlich vorher noch nicht hatten", sagt der Experte.
Warum entzündet sich die Gewalt am Thema Migration?
Politikwissenschaftler Anand Menon vom King's College betont, dass Migration als politisches Thema bei den Briten nicht weit oben auf der Prioritätenliste steht. "Da sind die Umfragen eigentlich ziemlich eindeutig", sagt er im dpa-Gespräch. Die große Mehrheit sei entspannt, was Einwanderung angehe. Trotzdem drehte sich die politische Debatte in den vergangenen Jahren oft um das Thema.
Neumann hält unrealistische Versprechungen der früheren konservativen Regierung, die Einwanderungszahlen zu senken, für mitverantwortlich für eine aufgeheizte Stimmung im Land. Das habe Erwartungen geschaffen, die nicht zu erfüllen gewesen seien.
Dabei sei auch die Rhetorik eskaliert, beispielsweise als die damalige Innenministerin Suella Braverman von einer "Invasion" sprach in Bezug auf irreguläre Einwanderer, die mit kleinen Booten den Ärmelkanal überqueren. Damit habe sie dem Diskurs eines Tommy Robinson Legitimität verliehen, so Neumann.
Geht es in Wirklichkeit um soziale Probleme?
Die konservative Regierung habe mit ihrer Sparpolitik seit 2010 die Ungleichheit im Land vergrößert, sagt der Soziologe Aaron Winter von der Universität Lancaster der dpa. Damit habe sie ein Umfeld geschaffen, in dem Alteingesessene die Migranten als Ursache für die Sparmaßnahmen verantwortlich machen könnten, die eigentlich von einer konservativen, rechtsgerichteten Regierung durchgeführt wurden, sagt er.
"Die extreme Rechte wird als Stimme der zurückgebliebenen weißen Arbeiterklasse dargestellt, als Stimme des Volkes, der schweigenden Mehrheit", sagt Winter. Akademiker, Journalisten und politische Parteien rechtfertigten rechtsextreme Aussagen dann teils als legitime Beschwerden aus der Arbeiterklasse und machten sie so salonfähig.
Hat es solche Krawalle in Deutschland schon gegeben?
Nein, zumindest nicht in diesem Umfang. Was es gab und bis heute gibt, sind Kundgebungen, bei denen gegen Migranten und insbesondere Muslime gehetzt wird, sowie rechte Terroranschläge, etwa auf Häuser, in denen Zuwanderer oder ihre Nachkommen leben.
In den Jahren nach der Wiedervereinigung eskalierte besonders in Ostdeutschland rechte Gewalt. Es kam zu rassistischen Krawallen, etwa in Hoyerswerda und in Rostock-Lichtenhagen, wo sich 1992 ein rechter Mob vor einem Gebäude formierte, in dem die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber sowie vietnamesische Vertragsarbeiter untergebracht waren.
Kurzlebig und von hoher Gewaltbereitschaft geprägt war das rechte Bündnis "Hooligans gegen Salafisten" (HoGeSa), das sich im Oktober 2014 in Köln Straßenschlachten mit der Polizei lieferte. 2018 wurde in Chemnitz Daniel H. am Rande eines Stadtfestes getötet.
In den darauffolgenden Tagen kam es zu massiven Protesten, daran beteiligten sich Bürger von Chemnitz zusammen mit Neonazis. Auch AfD-Politiker und Fußball-Hooligans waren vor Ort. Es kam zu Ausschreitungen. 2019 wurde ein Syrer zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt. Das Gericht war überzeugt, dass er zusammen mit dem geflüchteten Mittäter Daniel H. erstochen hat.
Welche Rolle spielen in Deutschland die Parteien?
Die AfD hat mehrfach schwere Straftaten, die von Zuwandern verübt wurden, zum Anlass genommen, um in öffentlichen Äußerungen, teilweise auch am Ort des Geschehens, für die Partei und ihren Antizuwanderungskurs zu werben.
Beispielsweise in Mannheim, wo Ende Mai ein 25-jähriger Afghane fünf Männer mit einem Messer verletzt hatte. Einer von ihnen, der 29-jährige Polizist Rouven Laur, starb zwei Tage später an seinen Verletzungen. Teilnehmer einer AfD-Kundgebung hielten in Mannheim Transparente mit Slogans wie "Macht die Grenzen dicht" hoch. Die AfD argumentiert generell nach dem Motto: Wer nicht ins Land kommt, kann hierzulande auch keine Straftaten verüben. (dpa/lla)
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