- Wasserwerfer, brennende Autos, Tränengas: Die Niederlande machen mit dramatischen Bildern von gewaltsamen Protesten gegen die Corona-Politik Schlagzeilen.
- Auch in Deutschland ist es bei vergangenen Demonstrationen bereits zu Ausschreitungen gekommen – beispielsweise in Berlin und Leipzig.
- Drohen in Zukunft auch hier vergleichbare Randale? Experte Dieter Rucht warnt vor einer sich hochschaukelnden Dynamik.
Eindhoven, Amsterdam, Venlo, Roermond: Erschreckende Bilder dieser Städte, die viele Deutschen eigentlich hauptsächlich für Shopping-Ausflüge nutzen, gehen aktuell um die Welt. Denn bei Protesten gegen eine nächtliche Ausgangssperre im Kampf gegen das Coronavirus ist es in mehreren niederländischen Städten zu massiven Ausschreitungen gekommen.
In Amsterdam trieb die Polizei Demonstranten mit Wasserwerfern und Polizeihunden auseinander, in Eindhoven kam Tränengas zum Einsatz. Dort waren Fahrzeuge angezündet und Geschäfte geplündert worden. Randale und Krawalle gab es auch in Apeldoorn, Arnheim, Breda, Den Haag, Enschede und Tilburg, dutzende Festnahmen waren die Bilanz.
Vorgeschmack in Leipzig und Berlin
Droht ein vergleichbares Szenario auch in Deutschland? Immerhin flogen auch hierzulande bei Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen bereits Flaschen und Pyrotechnik: Bei Veranstaltungen im November in Leipzig und Berlin kam es etwa zu bewussten Verstößen gegen Infektionsschutzauflagen, polizeiliche Anordnungen wurden missachtet, Medienvertreter und Polizeibeamte angegriffen.
Und Ende August versuchten Randalierer Absperrungen am Berliner Reichstagsgebäude zu durchbrechen. Bilanz der damaligen Demonstration im Regierungsviertel: 365 Verhaftungen, 77 verletzte Beamte.
"Es ist nicht auszuschließen, dass es auch in Deutschland solche Bilder geben wird", sagt Sozialwissenschaftler Dieter Rucht, der zu politischem Protest und sozialen Bewegungen forscht, über die Bilder aus den Niederlanden. "Es ist sogar wahrscheinlich, dass sich so etwas früher oder später auch in Deutschland abspielt", glaubt der Experte. Weil gewaltsame Ausschreitungen stark von den konkreten Umständen abhingen, ließe sich aber eine solche Dynamik nicht verlässlich voraussagen.
Niederlande: Protest von jungen Menschen?
Rucht sagt: "Deutschland und die Niederlande sind hinsichtlich des Regierungsstils und ihrer Zivilgesellschaft strukturell sehr ähnlich. In den Niederlanden ist das liberale und tolerante Klima etwas ausgeprägter als in Deutschland".
In den Niederlanden gingen vor allem junge Menschen auf die Straße, um sich gegen die verhängte Ausgangssperre zur Wehr zu setzen. Zwischen 21 und 4.30 Uhr dürfen Bürger in den Niederlanden ihre Wohnungen nicht verlassen. Die Maßnahme gilt vorerst bis zum 9. Februar.
"Auch in Deutschland wäre zu erwarten, dass der konfrontative Protest vor allem von jungen Menschen kommt", schätzt Rucht. Bei gewaltvollen Ausschreitungen sei der Altersdurchschnitt in der Regel relativ niedrig. "Bei den Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen ist aber hierzulande auch die Altersgruppe der 30- bis 40-Jährigen stark vertreten", so Rucht.
Ähnliche Mischung wie in Holland
Unabhängig vom Alter sei die Mischung der Gruppen in den Ländern sehr ähnlich. "In beiden Ländern mischen sich Gruppen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben", sagt der Experte. Zum einen gäbe es Menschen, die massiv von den Einschränkungen betroffen seien und ihr Anliegen auf die Straße tragen wollten – ohne es mit politischen Positionen rechts- oder linksextremer Art zu verknüpfen.
"Dann gibt es Leute, die Großdemonstration als öffentliches Forum nutzen, um Flugblätter zu verteilen und Plakate zu zeigen", analysiert Rucht. Ihre Anliegen seien sehr heterogen und hätten teilweise gar keine Verbindung zum Thema Corona. "Dabei gehen auch Bienenzüchter, Anthroposophen und religiöse Gruppen auf die Straße", so der Experte. Zuletzt gäbe es jedoch auch politisierte Leute – solche, die rechtspopulistischen Gruppen naheständen und solche, die rechtsextremen Organisationen angehörten.
Die Bundesregierung ist alarmiert
Diese Gruppen wecken besonders das Interesse der Bundesregierung. In einer Antwort auf eine kleine Anfrage der Grünen-Fraktion schreibt sie: "Es liegen vereinzelt Erkenntnisse vor, dass Rechtsextremisten, die aus dem Hooligan-Milieu stammen und/oder aktiv Kampfsport trainieren, gezielt Demonstrationen aufsuchen, die Potenzial für gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei oder dem politischen Gegner erwarten lassen."
Die Demonstrationen gegen die Corona-Politik erschienen aufgrund ihrer Größe und Unübersichtlichkeit im Hinblick auf Teilnehmerzahl und deren Herkunft aus verschiedensten Spektren besonders attraktiv, denn dort könne die körperliche Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner oder Repräsentanten des Staates gesucht werden.
Durch die seit 2017 zugenommene Popularität des Kampfsports innerhalb des rechtsextremistischen Spektrums habe sich die Gewaltkompetenz bei Rechtsextremisten in den vergangenen Jahren deutlich erhöht.
Die Bundesregierung schreibt weiter: "Die Sicherheitsbehörden beobachten die rechtsextremistische Kampfsport- und Hooliganszene aufmerksam." Es sei bekannt, dass sich unter den Teilnehmern bisheriger Demonstrationen Mitglieder der rechtsextremistischen Parteien NPD, "Der III.Weg", "Die Rechte" sowie Angehörige der rechtsextremistischen Hooligan-Szene und Reichsbürger befunden hätten.
Corona-Pandemie: Hochgeschaukelte Dynamik
Experte Rucht sieht darin eine große Gefahr: "Aus dem Nebeneinander der verschiedenen Gruppen kann ein Miteinander werden, wenn sie sich als Brüder im Geiste verstehen", warnt der Experte. "Über längere Kontakte und die Netzkommunikation könnte sich die politische Tendenz nach rechts verschieben", fürchtet Rucht.
Und noch eine weitere Befürchtung hat Rucht: "Wenn Gruppen auftreten, die einen generellen Hass auf Polizei und Ordnungskräfte haben und die gewaltförmige Auseinandersetzung suchen, so kann das auch Menschen anstacheln, die mit friedlichen Absichten gekommen sind, aber in den Sog der Konfrontation geraten", so der Politikwissenschaftler.
Im Netz würde die Stimmung zusätzlich angeheizt. "Diejenigen, die besonders scharf vorgehen, finden Anklang und bestimmen die Tonlage", meint Rucht. Dadurch fielen Hemmschwellen der Rücksichtnahme und Toleranz.
"Wenn sich in Kommentaren eine aggressive Sprache durchsetzt, erscheint der Schritt zur Gewalt als logische Konsequenz", fürchtet der Experte. Ähnliches schreibt die Bundesregierung: "Auch kann die hohe digitale Vernetzung der Szenen zu einer fortschreitenden Radikalisierung führen."
"Kein Patentrezept" für Gegner der Corona-Maßnahmen
Was also ist die Antwort? "Es gibt kein Patentrezept", meint Experte Rucht. Man müsse differenziert reagieren und in der politischen Ansprache die verschiedenen Gruppen unterscheiden. "Es gibt Gruppen, die eine unangemessene Rhetorik aufweisen, aber nachvollziehbare Anliegen haben.“ Ihnen sollte man zuhören und mit ihnen auch streiten, findet der Experte.
Solche aber, die Realität systematisch verleugnen, wird man aus Sicht des Experten kaum überzeugen können. "Aber man sollte ihren Sichtweisen dennoch die Fakten entgegenhalten, um gegebenenfalls beobachtende Dritte für die Seite der Fakten zu gewinnen", sagt Rucht.
Kritik an der Kommunikationspolitik
Insgesamt müsse sich die Kommunikationspolitik ändern. "Maßnahmen sollten nicht nur von oben herab verkündet werden mit einem pauschalen Verweis auf drohende Gefahren und eine Verschlimmerung der Situation", sagt Rucht. Die Maßnahmen müssten im Einzelnen und im Konkreten begründet werden. Dies sollte außerdem nicht nur von der Exekutive aus erfolgen. "Die Parlamente müssen stärker eingebunden werden", fordert er.
Seitens der Politik gibt es weitere Reaktionen: Die "Querdenken-Bewegung" wird mittlerweile von den Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern beobachtet.
Verwendete Quellen:
- Deutscher Bundestag: Drucksache 19/25993. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Irene Mihalic, Monika Lazar, Dr. Konstantin von Notz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Gefahr durch rechtsextreme und verschwörungsideologische Instrumentalisierung der Anti-Corona-Politik-Demonstrationen.19.01.2021
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