Neun Jahre ist es her, dass Natascha Kampusch aus den Fängen ihres Entführers fliehen konnte. Doch auch wenn die Ermittlungen inzwischen abgeschlossen sind, bleiben an mancher Stelle noch immer Zweifel. Ein Überblick.
3.096 Tage – eine unvorstellbar lange Zeit. Noch dazu, wenn man sie wie
Große Teile ihrer Gefangenschaft verbrachte Natascha Kampusch in einem unterirdischen Verlies, das nicht größer als fünf Quadratmeter war. In ihrem Buch "3.096 Tage", das auch verfilmt wurde, schildert sie die "extreme Fremdbestimmung und psychische Folter" durch ihren Entführer Wolfgang Priklopil: "Ich war von ihm so abhängig, wie es sonst nur Säuglinge und Kleinkinder von ihren Eltern sind: Jede Geste der Zuwendung, jeder Bissen Essen, das Licht, die Luft – mein ganzes physisches und psychisches Überleben hing von diesem einen Mann ab, der mich in sein Kellerverlies gesperrt hatte."
Misshandlungen und Todesdrohungen
Immer wieder misshandelte Priklopil das Mädchen. Zwar durfte Kampusch später das Haus verlassen und Priklopil in den Baumarkt begleiten – doch ihr Entführer setzte sie permanent unter Druck. Falls sie jemanden ansprechen sollte, werde er sie töten, lautete nur eine seiner Drohungen.
Als Kampusch eines Tages Priklopils Auto putzte (in dem sie einst entführt worden war), schaffte sie es in einem unachtsamen Moment ihres Peinigers, zu fliehen. Noch am selben Abend warf sich Priklopil vor eine S-Bahn und starb.
Obwohl die Ermittlungen inzwischen abgeschlossen sind und sich sogar mehrere Kommissionen damit beschäftigt haben, sind auch neun Jahre später noch nicht alle Fragen geklärt. Wir beleuchten die strittigen Punkte.
Gab es Mittäter?
Eine Reihe von Indizien deutet darauf hin, dass Priklopil nicht alleine gehandelt haben könnte. Eine zwölf Jahre alte Schulkameradin beobachtete, wie Kampusch bei ihrer Entführung in einen weißen Kleintransporter gezerrt wurde. Neben der Person im Laderaum sah sie noch eine zweite, die am Steuer des Wagens gesessen haben soll. Details konnte das Mädchen allerdings nicht erkennen.
Unmittelbar nach der Entführung – noch bevor sie sein Haus erreichten – telefonierte Priklopil zunächst und sagte dann zu Kampusch, dass "die anderen" nicht kommen würden. Außerdem fragte die Beamtin, mit der Kampusch nach ihrer Flucht als erstes Kontakt hatte, die junge Frau nach Mittätern. Daraufhin antwortete Kampusch nur, sie könne "keine Namen nennen". Eine internationale Evaluierungskommission kam 2013 in ihrem Abschlussbericht dennoch zu dem Schluss, dass es keine Hinweise auf weitere Täter gebe.
Brachte sich der Chefermittler tatsächlich selbst um?
Polizei-Chefermittler Franz Kröll kritisierte wiederholt schlampige Ermittlungen. Etwa, dass Spuren nicht gesichert, Beweise vom Tatort entfernt wurden und dass sein Team lange Zeit wichtige Vernehmungsprotokolle nicht einsehen konnte.
Wegen seiner Kritik soll er später in den Innendienst versetzt worden sein, wie sein Bruder Karl Kröll sagt. Er zweifelt auch an der offiziellen Version, dass sich Franz Kröll im Juni 2010 selbst das Leben nahm. Demnach passt etwa die Handschrift des Abschiedsbriefs nicht zu der des Verstorbenen. Karl Kröll erstattete deshalb im September 2012 Anzeige gegen Unbekannt wegen Mordes.
Warum wurde nicht schon früh wichtigen Hinweisen nachgegangen?
Schon in den ersten Wochen nach der Entführung gab es Hinweise auf den Täter Priklopil. Ein Polizeihundeführer hatte in einer Aktennotiz auf einen "Eigenbrötler" hingewiesen, der das gleiche Fahrzeug wie der Entführer fuhr und "einen Hang zu 'Kindern' in Bezug auf seine Sexualität haben" sollte.
Die Ermittler legten den Hinweis allerdings einfach zu den Akten – sie hatten Priklopils Transporter zuvor routinemäßig überprüft. Priklopil erklärte damals, das Fahrzeug für Bauarbeiten zu nutzen; als die Polizei tatsächlich Bauschutt im Wagen fand, wurde er nicht verdächtigt. Trotz dieser Kontrolle bleibt die Frage, warum die Beamten den eindringlichen Schilderungen des Hundeführers nicht genauer nachgingen.
Welche Rolle spielt Ernst H.?
Neben Entführer Priklopil stand vor allem ein Mann im Fokus der Öffentlichkeit: sein Freund Ernst H. Nur Stunden vor dessen Selbstmord traf er sich mit Priklopil und fuhr ihn durch die Gegend. Zwar wurde er vom Vorwurf freigesprochen, Priklopil bei seiner Flucht geholfen zu haben, doch seine Rolle bleibt dennoch umstritten. So soll Priklopil im Beisein von Ernst H. einen Abschiedsbrief an seine Mutter begonnen, diesen aber bereits nach dem Wort "Mama" wieder abgebrochen haben. Eine spätere Schriftanalyse legt jedoch nahe, dass der Zettel von Ernst H. selbst stammen könnte.
Auch konnte der Freund noch während der Spurensicherung nach Priklopils Tod einige Gegenstände aus dessen Haus entfernen, die er ihm angeblich zuvor geliehen hatte. Zudem änderte Ernst H. wiederholt seine Aussage, warum er zum Zeitpunkt der Entführung 500.000 Schilling an Priklopil überwiesen hatte und eine Woche später den Großteil wieder zurückerhielt. Kampusch selbst sagte allerdings in einem Interview, dass ihr Verhältnis zu Ernst H. fast freundschaftlich sei.
Was ist dran an den Vorwürfen des Vaters?
Ludwig Koch, der Vater von Natascha, hat seine eigenen Theorien zu dem Martyrium seiner Tochter. In dem Buch "Missing – A Father’s Search for Natascha Kampusch" (Deutsch: "Vermisst – Die Suche des Vaters nach Natascha Kampusch") zweifelt er an Kampuschs Version der Entführung: Er greift viele strittige Punkte auf - wie den Tod des Chefermittlers oder die Rolle von Ernst H.
Koch zweifelt sogar am allgemeinen Verständnis von Opfer und Täter – etwa weil Kampusch zwar einerseits Priklopil einen "Verbrecher" nannte, sich nach dessen Selbstmord aber auf seinen Sarg stürzte und weinte. Das Buch des Vaters wirft neben den bekannten Fragen weitere auf: Warum weichen seine Schilderungen derart von Kampuschs ab? Wie ist das Verhältnis zwischen Vater und Tochter? Was stimmt an Kochs Vorwürfen? Ob es jemals Antworten geben wird, bleibt fraglich.
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