- Die Ausschreitungen bei Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen bekommen derzeit bundesweite Aufmerksamkeit.
- Ein Forscher spricht von einer gefährlichen "Verschiebung des Protestgeschehens": Während die Rücksichtsvollen kaum eine Stimme haben, dominiert eine laute Minderheit das Bild.
- Gegenprotestler versuchen das auf kreative Weise zu ändern.
Proteste gegen die Corona-Maßnahmen bestimmen die Schlagzeilen. "Münchener Polizei stoppt verbotenen Demonstrationszug", "Erneut Corona-Proteste und Angriffe auf Polizisten in Sachsen" oder "Proteste gegen Corona-Maßnahmen: Wenn Kinder zur Waffe werden" lauten die jüngsten Meldungen in den Nachrichten.
Wenn es aktuell um Demonstrationen geht, dann in erster Linie um Querdenker, Corona-Skeptiker, Maßnahmengegner. Der Gegenprotest? Meist abgehandelt in einem Nebensatz wie "Vielerorts formierte sich aber auch Gegenprotest".
Versammlungsrecht wegen Corona-Pandemie eingeschränkt
Ein Grund dafür liegt auf der Hand: Das Versammlungsrecht ist durch die Corona-Schutzverordnungen der Länder aktuell eingeschränkt. Dabei gilt ab einer bestimmten Personenzahl auch im Freien die Maskenpflicht, die Länder machen außerdem Vorgaben zu Abstandsregeln und Zugangsbeschränkungen.
In der aktuellen Corona-Schutzverordnung in Nordrhein-Westfalen heißt es beispielsweise: "Versammlungen im Sinne von Artikel 8 Grundgesetzes im öffentlichen Raum im Freien bei gleichzeitig mehr als 750 Teilnehmenden" dürften nur noch von immunisierten oder getesteten Personen besucht werden – zumindest dann, wenn die Einhaltung des Mindestabstands nicht sichergestellt ist.
Wer Regeln bricht, fällt auf
In Berlin hatte die Polizei in der Vergangenheit Demonstrationen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen aufgrund der Gesundheitsgefahren und wegen zu erwartender Verstöße bereits untersagt. Weil viele der sogenannten "Corona-Spaziergänge" nicht angemeldet und genehmigt sind, sind sie illegal.
Allgemein gilt: Wer sich an die Regeln hält, vorschriftsgemäß Ordner bei einer Demonstration stellt und für die Polizei ansprechbar ist, fällt weniger auf, als solche, die keine Masken tragen, den Abstand missachten und mit Angriffen auf Einsatzkräfte auffallen.
Problem für den Querdenker-Gegenprotest
"Für den Gegenprotest ist das ein Problem", sagt Gerhard Fontagnier. Der Grünen-Politiker sitzt im Mannheimer Stadtrat und beteiligt sich aktiv an einer Gegenstimme zu den "Querdenkern". Am Anfang hat Fontagnier versucht, online mitzudiskutieren. Hat in Facebook-Gruppen kommentiert und mit sachlichen Argumenten gegen Corona-Leugner, Skeptiker und Maßnahmen-Zweifler gehalten.
Aber schnell hat der Grünen-Politiker gemerkt: "Wenn man anders denkt, fliegt man aus diesen Gruppen schnell wieder raus, das ist wie eine Blase", sagt er. Nur in seltenen Fällen könne man jemandem zum Umdenken bewegen.
Echsenkostüme bis Bilder von Corona-Toten
Als dann auch in seiner Heimatstadt Corona-Märsche stattfanden, bei denen sogar Polizisten verletzt wurden, war für den Mannheimer schnell klar: Auch er muss auf die Straße. Er organisierte in Mannheim eine Menschenkette der Solidarität – mit Schals zum Abstandhalten.
Kreative Aktionen wie diese gibt es bundesweit: In Bochum übertrug das Schauspielhaus bei einer Versammlung der "Querdenker" die Zahl der Corona-Toten im Hintergrund. In Zwickau begleiten zwei junge Frauen regelmäßig die Demonstrationen mit Fotos ihrer an Corona verstorbenen Väter. Und in Bautzen konfrontiere eine Initiative die "Spaziergänger" mit Bildern aus der Intensivstation. In Berlin störten Menschen in Echsenkostümen Verschwörungsgläubige beim Protest.
Protestgeschehen "massiv verschoben"
"Man muss kreativer werden, um aufzufallen. Aber wenn wir nicht als solidarische Gemeinschaft durch die Pandemie kommen, dann gar nicht", ist sich Fontagnier sicher. Der Gegenprotest ist für ihn eine Selbstverständlichkeit: "Der Großteil der Bevölkerung lässt sich impfen, passt auf und macht bei den Maßnahmen mit", erinnert er. Dem wolle er Ausdruck verleihen. "Es muss das Signal geben: Die Mehrheit ist anders unterwegs", so der Kommunalpolitiker.
Die Corona-Spaziergänge würden ein Licht auf eine Minderheit werfen, die sich weit vom gesellschaftlichen Konsens entfernt hätte. Dieses Problem sieht auch Protestforscher Alexander Leistner. Die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit durch den Infektionsschutz hätten das Protestgeschehen in Deutschland "massiv verschoben".
Eingeschränkt aus Rücksichtnahme
"Viele progressiven Protestbewegungen haben sich selbst aus Rücksichtnahme auf die Gesellschaft eingeschränkt und auf Massenversammlungen verzichtet", erinnert Leistner. In gleichem Maße hätten die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen ohne jede Rücksicht zugenommen. "In vielen Regionen geht es dabei gar nicht mehr nur um Corona, sondern um die Umsturzprogrammatiken der extremen Rechten", betont der Experte.
Die Folgen seien gravierend: Nicht nur sei der Gegenprotest stark eingeschränkt, auch Menschen, die sich aus Rücksicht einschränkten, fehle die Möglichkeit, ihre Anliegen sichtbar zu machen. "Etwa die Arbeitsbedingungen in der Pflege, Überlastung von Familien oder dass sozial Benachteiligte durch die Pandemie teilweise komplett aus den Unterstützungs- und Hilfestrukturen herausgefallen sind", sagt Leistner.
Experte sieht "Verantwortungsparadox"
Es gäbe viele unterschiedliche Gründe für Protest – aber das Bild werde von den Unvernünftigen dominiert. "Das ist quasi ein Verantwortungsparadox, das alle unsichtbar macht, die sich solidarisch verhalten, aber auch die gegenhalten gegen die Proteste", analysiert er.
Auch Fontagnier betont: "Es ist Voraussetzung für unsere Aktionen, dass die Demonstranten sich sicher fühlen. Wir wollen kein Risiko eingehen." Man gehe deshalb über die Bedingungen der Corona-Schutzverordnung hinaus – verlange eine Maskenpflicht auch bei Einhaltung des Mindestabstands.
Angst und Unsicherheit beim Protest gegen Querdenker
Doch nicht nur die Gesundheitsgefahren bereiten jenen, die mit dem Verhalten der "Querdenker" nicht einverstanden sind", Sorge. "Das Verhalten der Teilnehmer bei den Corona-Märschen ist aggressiv", sagt Fontagnier. Ihm und seinen Mitstreitern seien bereits Provokationen entgegengeschrien worden. Zwar versuche man direkte Begegnungen zu vermeiden, dennoch habe es bereits brenzlige Situationen gegeben.
"Demonstranten mussten von der Polizei abgedrängt werden, weil sie uns so nahekamen", sagt er. Trotzdem verfolgt Fontagnier Telegram-Kanäle, auf denen zu "Corona-Spaziergängen" aufgerufen wird, weiter und reagiert mit eigenen Aktionen.
Auch Protestforscher Leistner hat beobachtet: "Am Anfang hat sich viel in den digitalen Raum verlagert. Es gab Petitionen oder Hashtags in sozialen Medien" Gegenproteste auf der Straße seien nicht an jedem Ort möglich – angesichts der aggressiven Stimmung.
Corona-Proteste haben "Scheingröße"
"Da gibt es auf jeden Fall Unterschiede zwischen größeren Städten und ländlichen Regionen und anfangs auch zwischen West- und Ostdeutschland", so Leistner. Jeder hätte aber auch die Möglichkeit zu kleinem und stillem Protest. "Pappfiguren etwa, die mit Botschaften versehen an Stelle von Gegendemonstranten aufgestellt werden", sagt Leistner. Auch Unterschriftensammlungen wirkten gegen das Gefühl der Vereinzelung.
Aktuell hätten die Corona-Proteste eine "Scheingröße und viel zu viel Aufmerksamkeit". Schon die Pegida-Proteste hätten gezeigt, dass es ein Fehler sei, auf eine laute Minderheit Rücksicht zu nehmen. "Zu oft werden die Demokratiegefährdungen dieser Proteste unterschätzt", ist sich Leistner sicher.
Motive für Gegenprotest
Wie die Corona-Märsche hätte auch der Gegenprotest unterschiedliche Motive. Viele seien ermüdet und könnten nicht verstehen, warum sich die Pandemie mit all ihren Folgeschäden auch wegen der trotzigen Uneinsichtigkeit einer Minderheit weiter dahinschleppe. "Dann gibt es auch die Verzweiflung von Angehörigen an Corona Verstorbener über die zur Schau gestellte Rücksichtslosigkeit oder die Leugnung der Gefahren", ergänzt Leistner.
Schließlich herrsche auch Unmut darüber, dass politische Akteure die Gefährlichkeit der Proteste lange verharmlost hätten. Leistner fürchtet, dass die Vernünftigen entmutigt werden. "Sie werden schnell übersehen, deren stumme Gesten der Solidarität – die tagtägliche Rücksichtnahme und millionenfach gelebte Solidarität", klagt er.
Verwendete Quellen:
- Interview mit Dr. Alexander Leistner
- Interview mit Gerhard Fontagnier
- Tagesspiegel.de: "Nicht länger als fünf Minuten mit Verschwörungsgläubigen reden"
- WAZ Bochum: Schauspielhaus zeigt "Querdenkern" Zahl der Corona-Toten
- MDR extra: Trauer in der Pandemie - Wie zwei Frauen gemeinsam um ihre Väter trauern
- MDR.de: Erneut Corona-Proteste und Angriffe auf Polizisten in Sachsen
- Tag 24.de: Initiative konfrontiert "Spaziergänger" bei Anti-Corona-Demo mit Bildern aus Intensivstation
- FAZ.de: Münchener Polizei stoppt verbotenen Demonstrationszug
- WDR.de: Proteste gegen Corona-Maßnahmen: Wenn Kinder zur Waffe werden
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