Mörder, Vergewaltiger, Neonazis: Michael Sturm betreut mit Vorliebe die ganz schweren Fälle. Im Interview erklärt der Strafverteidiger, warum auch Terroristen einen fairen Prozess verdient haben, ob er nach einer erfolgreichen Verteidigung schon einmal ein schlechtes Gewissen hatte und welche Fälle ihm besonders nahe gehen.
Herr Sturm, Sie sind fast ausschließlich im Strafrecht tätig und beraten Mörder, Vergewaltiger und Neonazis. Warum tun Sie das eigentlich?
Michael Sturm: Während des Studiums und Referendariats hat sich heraus kristallisiert, dass ich da ganz gut bin. Das hat mich immer interessiert. In einem Café an der Uni Frankfurt habe ich stets sehr interessiert die Gerichtsreportagen im "Spiegel" gelesen. Ich dachte mir: Da will ich auch mal drin stehen.
Das haben Sie geschafft. Besitzen Sie eine Faszination für schwere Verbrechen?
Sturm: Nein, das weniger.
"Ein faires Verfahren ist unabhängig von der Art des Delikts"
Was reizt Sie dann an diesen Fällen?
Sturm: Mir geht es um die Verantwortung. Ich bin ja der einzige Ansprechpartner für den Mandaten, zu dem er Vertrauen haben kann. Sonst wäre er der Staatsgewalt, d.h. Polizei und Staatsanwaltschaft, vergleichsweise schutzlos ausgeliefert. Es gibt einfach ein unheimliches Machtgefälle. Ohne jemanden, der den Beschuldigten die Spielregeln erklärt, haben sie keine Chance.
Warum hat ein mutmaßlicher Mörder, Kinderschänder oder Terrorist einen fairen Prozess verdient?
Sturm: Ganz einfach: Ein faires Verfahren ist völlig unabhängig von der Art des Deliktes. Man darf dem Mensch sein Menschsein nie absprechen, auch wenn er noch so böse Sachen gemacht hat.
Hatten Sie schon mal ein schlechtes Gewissen nach einem eher milden Urteil für ein schweres Verbrechen?
Sturm: Nein. Die Sachen, die man mit nach Hause nimmt, sind eher die umgekehrten Fälle. Wenn ein Mandant verurteilt wird, obwohl meiner Ansicht nach die Beweise oder Indizien nicht ausreichen. Daran leide ich, das ist das größere Problem.
"Distanz ist essentiell"
Nach grausamen Verbrechen gibt es in der Öffentlichkeit Stimmen, die für besonders harte Strafen plädieren. Ist es schwer, sich davon nicht beeinflussen zu lassen?
Sturm: Mit dem Finger auf andere zu zeigen und zu sagen "Hängt ihn!", ist immer sehr einfach. Aber Juristen erfahren ein spezielles Training, um die Fälle rein technisch-rechtlich zu betrachten und sich nicht von Emotionen leiten zu lassen. Natürlich wird man immer auch einen privaten Blick auf den Fall haben. Das darf die professionelle Sicht jedoch nicht beeinflussen.
Ob Sie einen Drogendealer oder Mörder verteidigen macht für Sie keinen Unterschied?
Sturm: Nein. Die Art des Deliktes macht keinen Unterschied. Fälle sind unterschiedlich schwierig, Richter und Staatsanwälte agieren unterschiedlich, dem einen Mandanten kann man die entscheidenden Rechtsfragen leichter erklären, dem anderen nur mit großer Mühe.
Manchmal werden Anwälten Sympathien für ihre Mandanten unterstellt, nach dem Motto "Du bist, wen du verteidigst".
Sturm: Ein Anwalt, der sich vor den Karren des Mandanten spannen lässt, der hat ja keinen guten Blick auf das Verfahren. Wie soll ein Verteidiger, der politische Sympathien für einen Beschuldigten hat und ihn vielleicht zum Märtyrer machen will, die nötige Distanz für eine professionelle Beratung entwickeln? Diese Distanz ist essentiell, gerade für Strafverteidiger.
"Alle fünf, sechs Jahre gibt es Fälle, die besonders belasten"
Sie sind Sozialdemokrat. Gibt es nicht mal einen Genossen, der Sie zur Seite nimmt und sagt: Michael, warum musst du denn die Nazis verteidigen?
Sturm: Ja, das gibt es. Es ist gar nicht so leicht, die Beweggründe zu erklären. Wenn sich keine qualifizierten Verteidiger für diese Leute finden, sondern nur politisch indifferente oder rechte Szeneanwälte, dann hätten die Beschuldigten es leicht, einen Opfermythos zu pflegen oder zu sagen: Wir hatten ja keinen fairen Prozess. Ich will hier aber auch keine aktive Werbung um solche Mandanten machen.
Haben Sie schon einmal einen Fall abgelehnt aus moralischen Gründen?
Sturm: Ja, gerade aus dem Bereich Neonazis.
Gab es eine Verteidigung, die Sie bereut haben?
Sturm: Dazu verweigere ich die Auskunft.
Was war emotional ihr schwerster Fall?
Sturm: Auch hier möchte ich nicht ins Detail gehen.
Anders gefragt: Gibt es Fälle, die mehr belasten als andere?
Sturm: Es gibt alle fünf, sechs Jahre Verfahren, die einen emotional besonders aufwühlen. Niemand schaut sich gerne Bilder einer Obduktion an. Man arbeitet das weg und entwickelt ein dickes Fell. Ein Psychiater würde wahrscheinlich sagen: Wer viele Tötungsdelikte verteidigt, sollte nach einiger Zeit mal ein Gespräch suchen. Bisher hat sich so etwas unter Strafverteidigern nicht durchgesetzt.
"Prinzipiell sage ich: Anwälte lügen nicht"
Warum nicht?
Sturm: Das ist ja auch so ein Zeichen von Schwäche, sich mit Dritten über solche Sachen zu unterhalten. Deswegen fällt es Beteiligten so schwer. Auch unter Kollegen ist das nicht üblich. Da wird lieber mit dem letzten tollen Erfolg angegeben.
Es gibt die Anwalt-Grundregel "Du musst immer wissen, was du sagst, aber du musst nicht alles sagen, was du weißt". Heißt das, dass Anwälte manchmal schwindeln?
Sturm: Bewusst etwas weglassen, hieße die Wahrheit nicht richtig darstellen. Prinzipiell sage ich: Anwälte lügen nicht. Sie sagen auch nicht die halbe Wahrheit. Das ist zumindest meine persönliche Berufsauffassung. Im Zweifelsfall sagt man lieber gar nichts, bevor man den Mandanten belastet.
Nicht die tatsächliche Schuld ist in einem Verfahren ausschlaggebend, sondern ob die Schuld nachgewiesen werden kann. Können Sie verstehen, dass einige Menschen das gerade bei sehr schweren Straftaten anstößig finden?
Sturm: Ja, dieser Satz ist brutal, aber dieser Satz ist so richtig wie er nur richtig sein kann: Es ist besser, dass neun Schuldige zu unrecht frei gesprochen werden als dass ein Unschuldiger zu unrecht verurteilt wird. Die Unschuldsvermutung ist der Schutz des Einzelnen gegen die Übermacht der Staatsgewalt. Wenn eine Tat nicht zu 100 Prozent nachgewiesen wird, dann ist er freizusprechen. Viele Menschen verstehen das nicht, aber das ist ein ganz wichtiges Prinzip.
Wann ist ein Urteil gerecht?
Sturm: Das ist eine ganz spannende Frage. Wenn Sie mit deutschen Juristen diskutieren, dann werden Sie über falsche und richtige Urteile diskutieren, über richtig oder falsch angewendetes Recht. Bei Kollegen aus dem französischen oder anglo-amerikanischen Raum ist das anders. Dort wird von einem Gerechtigkeitsstandpunkt aus argumentiert. Unsere Rechtstradition ist dagegen positivistisch, d.h. rechtsanwendend. Wenn ein Verfahren fair abgelaufen ist, ist das Urteil meistens auch gerecht.
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