Zwei Jahre sind vergangen, seitdem Anders Breivik bei zwei Attentaten in Oslo und auf der Insel Utoya 77 Menschen getötet hat. Vollständig verarbeitet ist die schreckliche Tat allerdings noch lange nicht. Laut einer norwegischen Studie leidet fast die Hälfte der Überlebenden noch immer an den Folgen des Massakers. Ein Trauma-Experte erklärt, wie sich so ein Erlebnis verarbeiten lässt und was der Jahrestag für die Betroffenen bedeutet.
Am 22. Juli 2011 änderte sich das Leben vieler junger Norweger schlagartig. Eigentlich wollten sie bei einem Jugendcamp auf der Ferieninsel Utoya eine unbeschwerte Zeit verbringen. Doch stattdessen befanden sie sich urplötzlich auf der Flucht vor einem Mörder, durchlebten Todesangst und sahen, wie ihre Freunde und Bekannte vor ihren Augen starben.
Seit der Tragödie von Norwegen sind zwei Jahre vergangen. Der Täter Anders Breivik ist mittlerweile verurteilt und sitzt im Gefängnis. Doch für viele seiner Opfer ist immer noch keine Normalität ins Leben eingekehrt. Trauma-Experte Prof. Dr. Martin Sack vergleicht die Bewältigung ihrer schrecklichen Erlebnisse mit dem Zusammensetzen eines Puzzles.
Nach einer aktuellen norwegischen Studie kämpfen immer noch vier von zehn Jugendlichen, die das Massaker von Utoya überlebt haben, mit Angst und Depressionen. Ist dieser hohe Anteil für Sie normal?
Prof. Dr. Martin Sack: Ja, angesichts der extremen Grausamkeit und Gewalt in diesem Fall ist das nachvollziehbar. Bei besonders traumatisierenden Ereignissen wie einer Vergewaltigung haben bis zu 75 Prozent der Betroffenen mit anhaltenden Störungen zu kämpfen.
In der Öffentlichkeit kennt man den Begriff "Posttraumatische Belastungsstörung". Ist das der Oberbegriff für alle Störungen dieser Art?
Prof. Dr. Martin Sack: Nein, das ist ein Spezialbegriff für typische Folgeerscheinungen auf ein traumatisches Ereignis. Es gibt aber noch ein breites Spektrum für daraus resultierende Störungen, zum Beispiel Depressionen. Für eine posttraumatische Belastungsstörung gibt es drei bestimmte Symptome: Zum einen sich aufdrängende Erinnerungen wie Flashbacks oder Albträume. Daneben treten Ängste und Vermeidungsstörungen auf. Die Betroffenen fühlen sich bedroht oder wollen wie im Fall von Utoya nicht auf die Insel fahren. Es fällt ihnen schwer, darüber zu reden.
Als drittes Symptom kommt noch körperlicher Stress und Überreaktionen hinzu, also beispielsweise eine höhere Reizbarkeit oder Schreckhaftigkeit. Das lässt sich auch messen, also beispielsweise ein erhöhter Blutdruck oder eine schnellere Herzfrequenz.
Ein Utoya-Überlebender hat wenige Monate nach dem Massaker grundlos zwei Menschen auf einer Straße in Oslo angegriffen. Kurz zuvor hatte er den Mörder Anders Breivik zum ersten Mal nach der Tat wieder gesehen.
Prof. Dr. Martin Sack: Ja, Reizbarkeit und Aggressivität sind auch typische Folgen. Die Betroffenen sind besonders dünnhäutig und können dann auch ausrasten, wenn alles nochmal bei einer Begegnung hochkommt.
Wann wird aus einer "normalen" Erlebnisverarbeitung ein Trauma?
Prof. Dr. Martin Sack: Nach der aktuellen wissenschaftlichen Meinung nimmt man an, dass das Erlebnis so belastend ist, dass es nicht normal verarbeitet wird. Stattdessen wird die Erinnerung zersplittert und die Verbindung zu dem Ereignis fehlt. Normalerweise würde man danach sagen: "Ich habe es überlebt, es ist vorbei." Wenn die Erinnerung aber nicht mit dem Erlebnis vernetzt ist, ist immer ein Bedrohungsgefühl da.
In der Therapie versucht man, dies aufzulösen, indem man die Erinnerung lebendig werden lässt. Man stellt es sich wie ein Puzzle vor, das auseinandergefallen ist und in der Therapie wieder zusammengesetzt werden soll.
Welche Faktoren begünstigen eine traumatische Störung?
Prof. Dr. Martin Sack: Das hängt von der Ereignisschwere ab, aber auch von der persönlichen Widerstandsfähigkeit. Ebenso kann eine persönliche Vorerkrankung, also eine andere Traumaerfahrung in der Vergangenheit, dazu beitragen. Entscheidend ist für eine Genesung aber vor allem, ob den Betroffenen Menschen zur Seite stehen und sie bei der Verarbeitung unterstützen.
Macht es einen Unterschied, ob es wie im Fall von Utoya eine Gemeinschaftserfahrung war?
Prof. Dr. Martin Sack: Ja, normalerweise können Gemeinschaftserlebnisse leichter verarbeitet werden. Die Betroffenen können sich miteinander austauschen und sich gegenseitig unterstützen. Die Frage "Warum ich?" drängt sich nicht so auf.
Die Opfer von Utoya sind überwiegend sehr jung, die meisten sind zwischen 15 und 20 Jahre alt. Spielt das eine Rolle?
Prof. Dr. Martin Sack: In dem Alter ist es eher leichter, so ein Erlebnis zu verarbeiten, da die Betroffenen eine Perspektive für die Zukunft haben. Da gibt es eine gute Prognose. Bei älteren Menschen oder bei sehr kleinen Kindern ist das häufig schwieriger.
Kann sich der Jahrestag für die Betroffenen negativ auswirken?
Prof. Dr. Martin Sack: Ja, der Jahrestag, Zeitungsberichte, Fotos, Treffen mit anderen Überlebenden oder Fragen von Nachbarn können für die Jugendlichen sehr belastend sein. Es ist wichtig, dass sie lernen damit umzugehen.
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