Das Bundesverfassungsgericht hat eine Neuregelung für verfassungswidrig erklärt, die es möglich machte, ein Strafverfahren wegen schwerer Verbrechen bei neuen Beweisen neu aufzurollen.

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Nur auf Basis neuer Beweise können freigesprochene Verdächtige nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht noch einmal für dieselbe Tat angeklagt werden. Die Ende 2021 in Kraft getretene Reform der Strafprozessordnung sei verfassungswidrig und nichtig, entschied das höchste deutsche Gericht am Dienstag in Karlsruhe (Az. 2 BvR 900/22).

Geklagt hatte ein Mann, der 1981 eine Schülerin in Niedersachsen umgebracht haben soll und auf Basis neuer Beweise erneut angeklagt wurde. Das Wiederaufnahmeverfahren müsse beendet werden, sagte die Vorsitzende Richterin Doris König.

Seit Anbeginn umstrittene Reform

Die heftig umstrittene Reform ermöglichte es, Tatverdächtigen auf Basis neuer Erkenntnisse noch einmal den Prozess zu machen. Der Bundestag hatte die Änderung der Strafprozessordnung (Paragraf 362) noch zu Zeiten der großen Koalition von Union und SPD beschlossen.

Vorher war es nur in wenigen Fällen möglich, ein rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren zuungunsten des Angeklagten noch einmal aufzurollen - etwa im Falle eines Geständnisses. Seit der Gesetzesreform ging das auch, wenn "neue Tatsachen oder Beweismittel" auftauchen. Die Regelung ist auf schwerste Verbrechen wie Mord, Völkermord und Kriegsverbrechen beschränkt, die nicht verjähren.

Richterin König erklärte bei der Urteilsverkündung, das Grundgesetz enthalte im Artikel 103 nicht nur ein bloßes Mehrfachbestrafungs-, sondern ein Mehrfachverfolgungsverbot. "Dieses schützt nicht nur bereits einmal verurteilte, sondern auch freigesprochene Personen vor einem erneuten Strafverfahren." Das gelte gegenüber Strafverfolgungsbehörden und Gerichten, aber auch gegenüber dem Gesetzgeber. Dieser habe bei Neuregelungen von Wiederaufnahmegründen zulasten des Betroffenen selbst dann keinen Spielraum, wenn sich im Nachhinein herausstellen sollte, dass ein Urteil unrichtig war.

Kein Freispruch unter Vorbehalt

Ein Betroffener "soll und muss darauf vertrauen dürfen, dass er nach dem Abschluss eines regelgemäß durchgeführten strafgerichtlichen Verfahrens nicht nochmals wegen derselben Tat vor Gericht gestellt werden kann", sagte die Vizepräsidentin des Verfassungsgerichts.

Es gehe dabei auch um die Freiheit und Menschenwürde des Betroffenen. "Denn es verhindert, dass er zum bloßen Objekt der Ermittlung des wahren Sachverhalts gemacht wird und nach einem rechtskräftigen Freispruch ständig damit rechnen muss, erneut einem Strafverfahren mitsamt den damit verbundenen Belastungen unterzogen zu werden."

Dem Senat sei bewusst, "dass dieses Ergebnis für die Angehörigen der 1981 getöteten Schülerin und insbesondere für die Nebenklägerin des Ausgangsverfahrens schmerzhaft und gewiss nicht leicht zu akzeptieren ist", sagte König. In dem Verfahren sei es aber nicht um den konkreten Fall gegangen, sondern um den Umgang mit dem grundlegenden rechtsstaatlichen Grundsatz, dass niemand zweimal wegen derselben Sache vor Gericht gestellt werden kann ("ne bis in idem").

Auslegung des Grundgesetzes steht Belangen von Opfern nicht entgegen

König verwies in diesem Zusammenhang auch auf die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus. Die Aufnahme des Grundsatzes in das Grundgesetz habe der uferlosen Durchbrechnung des Prinzips der Rechtskraft - wie unter der Willkürherrschaft des Nationalsozialismus - entgegenwirken sollen. Davon seien gerade auch Freigesprochene betroffen gewesen.

Dieser Auslegung des Grundgesetzes stünden die Belange von Opfern und deren Angehörigen nicht entgegen, sagte König. Sie hätten einen Anspruch auf effektive Strafverfolgung. Dieser sei aber nicht auf ein bestimmtes Ergebnis, etwa eine Verurteilung oder die Ermittlung der absoluten Wahrheit, gerichtet. Der Anspruch verpflichte Strafverfolgungsorgane nur zu einem effektiven Tätigwerden.

In den Fällen, auf die sich die Reform der Strafprozessordnung bezieht, stehe der Freispruch am Ende eines Strafverfahrens. "Deshalb kann das Vertrauen der Opfer oder ihrer Angehörigen in eine rechtsstaatliche, effektive Strafverfolgung durch solche Freisprüche grundsätzlich nicht erschüttert werden", führte die Vorsitzende Richterin aus. "Ihr dahingehender Anspruch ist erfüllt."

Mordfall Frederike als Auslöser

Konkreter Anlass für die Prüfung durch das höchste deutsche Gericht war der Mordfall Frederike. Ein Mann wird verdächtigt, 1981 die 17-Jährige aus Hambühren bei Celle vergewaltigt und erstochen zu haben. Das konnte ihm damals nicht nachgewiesen werden. 1983 wurde er rechtskräftig freigesprochen. Nach einer neuen DNA-Untersuchung einige Jahrzehnte später könnte er aber der Täter sein. Ihm sollte der Prozess gemacht werden, doch er legte Verfassungsbeschwerde ein.

Die Karlsruher Richterinnen und Richter stoppten den Prozess am Landgericht Verden. Der Mann kam bis auf weiteres auf freien Fuß. Das Verfassungsgericht verlängerte im Sommer die Außervollzugsetzung des Haftbefehls und kassierte Auflagen. Unter anderem hatte der Mann sich zweimal wöchentlich bei der Staatsanwaltschaft melden müssen und durfte seinen Wohnort nicht ohne Erlaubnis verlassen.

Die Familie hoffe auf Ruhe

Bei der mündlichen Verhandlung im Mai hatte Frederikes Schwester über ihren Anwalt emotionale Worte an den Zweiten Senat gerichtet: "Ihr Tod verjährt nicht in unserer Familiengeschichte", sagte der ehemalige Bundesanwalt Wolfram Schädler im Namen seiner Mandantin, die nicht nach Karlsruhe gekommen war.

Jahrelang hatte Frederikes Vater für eine Reform der Strafprozessordnung gekämpft. Unter anderem stellte er eine Petition dafür ins Internet, die rund 180.000 Menschen unterschrieben. Der Kampf sei mit dem Tod ihres Vaters nicht vorbei, ließ Frederikes Schwester vortragen. Zeit schaffe keinen Frieden, der Schmerz werde nicht weniger. Die Familie hoffe auf Ruhe. (dpa/lag)

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