Der Tod einer Ärztin in Ausbildung erschüttert Indien. Es ist einer von Zehntausenden Vergewaltigungsfällen, die jährlich gemeldet werden. Ärzte streiken jetzt aus Protest landesweit.
Wut und Trauer in der Ärzteschaft, Entsetzen in der Gesellschaft: Der gewaltsame Tod einer jungen Ärztin in Ausbildung hat in Indien eine neue Welle von Protesten ausgelöst. Es ist eine weitere Vergewaltigung, die das bevölkerungsreichste Land der Welt erschüttert.
Alleine im Jahr 2022 wurden mehr als 31.000 Vergewaltigungsfälle gemeldet. Am Wochenende erreichten die Proteste ihren bisherigen Höhepunkt: Medizinerinnen und Mediziner legten im ganzen Land für 24 Stunden ihre Arbeit nieder.
"Ich möchte nicht das nächste Opfer sein", stand auf Plakaten, die Ärztinnen in weißen Kitteln bei einer Kundgebung am Wochenende hochhielten. Krankenhäuser wiesen derweil Patientinnen und Patienten ab - wenn es sich nicht um Notfälle handelte. Bereits in den vergangenen Tagen hatten Zehntausende protestiert.
Autopsie wies Spuren sexueller Gewalt nach
Die Indian Medical Association rief Premierminister Narendra Modi auf, die Sicherheit für Personal im Gesundheitsbereich zu verbessern - gerade angesichts der Tatsache, dass mehr als die Hälfte der indischen Ärzteschaft Frauen seien. Es brauche bei Krankenhäusern Sicherheitsvorkehrungen wie an Flughäfen, erklärte der Chef der Vereinigung, RV Asokan. "Ich habe Angst", sagte eine junge Medizinerin einem Reporter des örtlichen Fernsehsenders NDTV. Ihre Eltern hätten ihr gesagt, dass sie keine Nachtschichten mehr übernehmen solle.
Denn in der Nacht passierte der Fall der 31-jährigen Ärztin in Ausbildung, die das schwelende Problem einmal mehr aktuell machte. Ihre Leiche wurde am Freitagmorgen vergangener Woche gefunden - in einem Seminarraum ihres Krankenhauses in der Millionenstadt Kolkata. Die Frau soll dort nach einer langen Schicht geschlafen haben. Ihr Körper wies viele Verletzungen auf, eine Autopsie ergab Spuren sexueller Gewalt. Die Polizei nahm bislang einen Verdächtigen fest.
Stimmen aus der Ärzteschaft berichteten, die Obduktion deute auf eine Gruppenvergewaltigung hin. Das Oberste Gericht Kolkatas wies eine indische Bundespolizeibehörde an, die Ermittlungen zu übernehmen. Kurz darauf randalierte ein Mob in dem Krankenhaus, wo die Leiche gefunden wurde. Die Polizei teilte bislang nicht mit, wer hinter dem Angriff steckte.
Premier registriert die Wut der Masse
Der Premier griff den Fall kürzlich in einer Rede auf. "Die breite Masse ist wütend", sagte der 73-Jährige. "Unser Land, unsere Gesellschaft und unsere Regionalregierungen müssen das ernst nehmen. Verbrechen gegen Frauen sollten mit einer größeren Dringlichkeit untersucht werden." Doch ähnlich drückte sich Modi schon vor zwölf Jahren aus.
Damals schockierte die Gruppenvergewaltigung einer 23-jährigen Studentin in einem fahrenden Bus in der Hauptstadt Neu-Delhi die Welt. Sie starb später in einem Krankenhaus. Auch damals gab es Massenproteste, was zu einer Verschärfung der Gesetze führte. Die vier Täter starben sieben Jahre später am Galgen - worauf Hunderte vor ihrem Gefängnis in der Hauptstadt Neu-Delhi jubelten.
Misstrauen gegenüber Polizei
Viel geändert hat sich seitdem aber nicht, wie Frauenrechtlerinnen beklagen. Viele Inderinnen trauen der Polizei und dem Justizsystem weiterhin nicht - besonders wenn sie einer tiefen Kaste angehören. Viele Fälle bleiben jahrelang liegen, manche Verdächtige kommen gar auf Kaution frei.
Ärztinnen sind einer doppelten Gefahr ausgesetzt: Zum einen erleben sie wie auch ihre männlichen Kollegen auf dem Subkontinent immer wieder Gewalt am Arbeitsplatz. Berichte häufen sich, wonach Angehörige angreifen - gerade wenn Patientinnen und Patienten sterben. Bis zu 75 Prozent der Medizinerinnen und Mediziner seien etwa Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt, hieß es in einer Studie der Indian Medical Association von 2019. "Ärztinnen und Ärzte werden misshandelt, sie sind unterbezahlt und überarbeitet", sagte ein Arzt der "Times of India".
Jede Viertelstunde ein neuer Vergewaltigungsfall
Zum anderen ist Gewalt gegen Frauen generell in dem patriarchisch geprägten Land mit 1,4 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohnern verbreitet - und deshalb haben sich bei den neusten Protesten auch Frauen aus anderen Berufsgruppen beteiligt - von jung bis alt. Nach offiziellen Daten wird in Indien jede Viertelstunde ein neuer Vergewaltigungsfall gemeldet. Die tatsächliche Zahl dürfte dabei deutlich höher sein, wie Frauenrechtlerinnen immer wieder betonen. Denn das Stigma ist so groß, dass viele Opfer lieber schweigen.
Ein Grund dürfte die Gesellschaft sein. Jedes Jahr werden Tausende weibliche Föten abgetrieben, Mädchen besuchen Schulen seltener als Jungen, und Töchter sind für Familien oft eine finanzielle Belastung - häufig müssen sie bei ihrer Heirat eine hohe Mitgift zahlen, obwohl dies inzwischen offiziell verboten ist.
Zuletzt versprach das Gesundheitsministerium, dass ein Komitee Sicherheitsmaßnahmen für das Gesundheitspersonal vorschlagen werde und rief die Protestierenden dazu auf, wieder in ihre Krankenhäuser zurückzukehren - gerade angesichts einer steigenden Zahl von Dengue- und Malaria-Fällen. Die Indian Medical Association war aber nicht überzeugt. Sie betonte, dass ähnliche Komitees in der Vergangenheit kaum Verbesserungen gebracht hätten. Die Werte einer Gesellschaft ändern sich nur langsam. (dpa/bearbeitet von pak)
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