Der Anschlag auf Wolfgang Schäuble jährt sich am 12. Oktober zum 30. Mal. Der Jahrestag erinnert daran, dass psychisch kranke Attentäter oftmals mit Gedanken argumentieren, die sich aus Verschwörungsmythen ableiten. Experten erklären, wann der Verschwörungsglaube gefährlich wird.
Er benahm sich unauffällig und niemand bemerkte ihn – dann aber zückte der Attentäter plötzlich seine Waffe: Vor 30 Jahren wurde der heutige Bundestagspräsident
Kaufmann war 37 Jahre alt, als er am 12. Oktober 1990 Schäuble angriff. Im Anschluss an eine Wahlveranstaltung schoss er ihm mit einer Smith & Wesson, Kaliber 38, in Kiefer und Rückenmark, bevor sich ein Personenschützer dazwischenwarf, der von einer weiteren Kugel getroffen wurde.
Schäuble seit Attentat von drittem Brustwirbel abwärts gelähmt
Schäuble, damals Bundesinnenminister unter Kanzler
Schon in Kaufmanns Vernehmung nach dem Attentat wurde klar, dass er unter einer massiven Psychose litt: Er gab an, Bürger würden mit "elektrischen Wellen" und "Lauttechnik" gefoltert, ihm selbst würden im Zwölffingerdarm und im Kopf "elektrolytisch" Schmerzen zugefügt – und Schäuble sei einer der dafür Verantwortlichen.
Kaufmann wurde vom Gericht aufgrund einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie für schuldunfähig erklärt und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Er wurde 2004 entlassen und starb 2019.
Der Jahrestag des Anschlags auf Wolfgang Schäuble erinnert daran, dass psychisch kranke Attentäter oftmals mit Gedankengebäuden argumentieren, die sich aus Verschwörungsmythen ableiten. Einige solcher teils kruden Theorien wie die der QAnon-Bewegung haben derzeit Konjunktur. Experten bestätigen: Die Grenze zwischen dem Glauben an Verschwörungsmythen und psychischer Störung ist fließend.
Wann schlägt Verschwörungsglaube in Wahnsinn um?
Wann Verschwörungsgläubigkeit in Wahnsinn umschlägt und akut gefährlich wird, ist von außen schwer zu beurteilen. Alexander Waschkau ist Psychologe und Experte für Verschwörungsmythen. "Menschen, die beispielsweise unter Verfolgungswahn leiden, suchen unter Umständen seltener aktiv nach Hilfe", gibt er im Gespräch mit unserer Redaktion zu bedenken. Attentate der letzten Zeit - wie etwa die von Halle und Hanau oder im neuseeländischen Christchurch - zeigen außerdem, dass die Täter oftmals sozial isoliert, ohne Freunde und enge Beziehungen leben.
"Deshalb allein ist man noch nicht psychisch krank", sagt Waschkau, Verschwörungsgläubige "spinnen eben doch nicht immer". Oft gehe es ihnen primär darum, bei Gleichgesinnten ein "identitätsstiftendes Gruppengefühl" zu erleben.
Psychisch instabile Menschen können sich von Verschwörungsmythen angezogen fühlen: "Dazu gehören frustrierte Menschen, die sich wirtschaftlich bedroht sehen, weil sie ihren Job verloren oder eine Trennung erlebt haben. Sie finden keinen direkt an ihrem Unglück Schuldigen – und suchen dann die Ursachen für ihr Pech in Verschwörungsfantasien."
Man müsse sehr genau hinsehen, um bei solchen Menschen potenzielle Gewalttendenzen frühzeitig zu erkennen, sagt der Experte. Problematisch sei dabei "dass es im Leben dieser Menschen oft kein Bezugssystem gibt, das greift – da ist häufig niemand, der sie als gefährlich identifizieren kann."
Schlimmer noch: Potenzielle Attentäter werden beispielsweise von anonymen Gruppen im Internet noch in ihren abstrusen Vorstellungen bestätigt. "Wenn psychisch instabile Menschen in solche Gruppen geraten, besteht die Gefahr einer Radikalisierung – und sie selbst können dann auch zur Gefahr werden."
Wann der Glaube an Verschwörungstheorien gefährlich wird
Gleichwohl darf man nicht davon ausgehen, dass Attentäter grundsätzlich psychisch gestört sind – das trifft in Wahrheit nur auf wenige von ihnen zu. Der Anteil psychisch Kranker, weiß die Mainzer Sozial- und Rechtspsychologin Pia Lamberty, sei "bei Attentätern nicht höher als in der Gesamtbevölkerung".
Auch Lamberty, Autorin eines Buches zu Verschwörungstheorien, hält es für "sehr schwierig", den Punkt zu bestimmen, an dem Verschwörungsgläubige zu gefährlichen Psychopathen werden. Verschwörungsmythen, sagt sie, seien "zunächst kein pathologisches Problem, sondern primär ein gesellschaftliches".
Gleichwohl lasse sich erkennen, dass der eingeschlagene Weg in Richtung einer Psychose führt, wenn Menschen Verschwörungen verstärkt auf sich persönlich beziehen. Wenn mehrere Faktoren in der Wahrnehmung des Betroffenen vorliegen, "die einer Realitätsprüfung nicht standhalten", sei das ein Alarmzeichen.
"Wer glaubt, dass sich eine Verschwörung gegen ihn selbst richtet, dass beispielsweise die eigene Wohnung abgehört und überwacht wird oder dass ihm persönlich geschadet wird – der kann psychisch krank sein."
Wichtig: Gute Beratung und Diagnose
Das Vorliegen einer echten psychischen Erkrankung könne sich aber auch zeigen, "wenn solche Menschen immer misstrauischer werden, anderen immer öfter böse Absichten unterstellen, sich immer mehr von der Umwelt und von Beziehungen zurückziehen".
So könne der allmähliche Übergang zu einer psychischen Erkrankung beginnen: "Die Grenze ist schwer zu erkennen, weil sie fließend ist. Vor der deutlichen psychischen Erkrankung findet schon das Abwandern in eine andere Welt statt."
Den Beginn einer solchen Erkrankung zu erkennen und zu diagnostizieren, sei für Laien äußerst schwierig. "Es braucht eine gute Beziehung zum Betroffenen." Doch wenn der sich isoliere und keine Sprechbereitschaft zeige, so die Expertin, sei das unmöglich: "Wenn man das Gefühl hat, der Betroffene schadet sich nur noch selbst, sollte man für ihn Hilfe suchen."
Eine gute fachliche Begutachtung sei dann "sehr wichtig", betont sie und empfiehlt Einrichtungen wie etwa die nordrhein-westfälische Sektenberatungsstelle: Dort werden auch Angehörige beraten.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Alexander Waschkau
- Gespräch mit Pia Lamberty
Verschwörungstheorien: Aus diesem Grund sind sie für viele Menschen so anziehend
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