- Seit Wochen befindet sich die Landeswährung der Türkei in Talfahrt.
- Dennoch hält Präsident Recep Tayyip Erdogan an seiner ungewöhnlichen Geldpolitik fest.
- Nun regt sich Protest, auch in der Wirtschaft – mit welchen Folgen?
In der Türkei standen vor Kurzem 38 Angeklagte vor Gericht, weil sie 2018 öffentlich prognostiziert hatten, was mittlerweile eingetreten ist: einen extremen Wertverfall der türkischen Währung. Kostete ein Euro vor einigen Jahren noch 3 Lira, kletterte der Preis Anfang 2021 auf 9 Lira, nur um am Montag kurzzeitig sogar auf mehr als 20 Lira zu steigen – ein historischer Höchststand.
Die Landeswährung verlor in weniger als einem Jahr deutlich mehr als die Hälfte ihres Wertes. Präsident Recep Tayyip Erdogan gibt dafür anderen die Schuld, den Mahnern, den Kritikern. Er selbst vertritt entgegen der gängigen volkswirtschaftlichen Lehre die Ansicht, hohe Zinsen förderten die Inflation. Seine Auffassung von Geldpolitik setzt Erdogan politisch durch, notfalls besetzt er dafür auch Schlüsselämter neu.
Die Folge: Nicht nur die Lira, auch Verbraucherpreise erreichen Rekordhöhen. Weil sich die Abwärtsspirale in den vergangenen Tagen immer schneller drehte, sah sich Erdogan nun gezwungen, mit einem ganzen Paket an Maßnahmen gegenzusteuern. Wie der Staatspräsident am Montagabend ankündigte, sollen unter anderem Ersparnisse der Bürger vor Wechselkursschwankungen geschützt werden.
Lira reagiert mit drastischen Kursgewinnen
Sollten die Verluste größer ausfallen als die von Banken versprochenen Zinsen auf die jeweiligen Einlagen, sollen die Verluste ersetzt werden. "Keiner unserer Bürger muss von nun an seine Einlagen von Lira in ausländische Währungen tauschen, weil er befürchtet, dass die Wechselkursschwankungen Gewinne aus Zinszahlungen zunichte machen könnten", sagte Erdogan.
Am Dienstag verkündete das Finanzministerium Details zu dem Stabilisierungspaket. Demnach gilt die Verlustabsicherung gegen Wechselkursschwankungen für Einzelpersonen, die Lira-Einlagen mit einer Laufzeit von drei, sechs, neun oder zwölf Monaten halten.
Darüber hinaus hatte Erdogan weitere Schritte angekündigt. Unter anderem will die Regierung den Exportunternehmen helfen, sich gegen hohe Wechselkursrisiken abzusichern. Die Türkei habe weder die Absicht noch das Bedürfnis, "sich auch nur den geringsten Schritt" von der freien Marktwirtschaft und dem aktuellen Devisenregime zu entfernen, erklärte Erdogan.
Mit kurzfristigen Erfolg: Die türkische Lira reagierte mit drastischen Kursgewinnen gegenüber US-Dollar und Euro von rund 25 Prozent. Am Dienstag pendelte sich der Umtauschkurs bei etwa 15 Lira für einen Euro ein. Offen bleibt, wie nachhaltig der Effekt ist, insbesondere da nun der Staat die Wechselkursrisiken trägt. Im Extremfall könnte das Paket also für die Türkei sehr teuer werden.
Drei neue Zentralbankchefs innerhalb von zwei Jahren
Und das Hauptproblem der Lira bleibt: der rapide Glaubwürdigkeitsverlust der türkischen Notenbank. Die Zentralbank befindet sich seit Spätsommer ungeachtet einer sehr hohen Inflation auf striktem Zinssenkungskurs. Durch die Kursverluste der Lira wird die Teuerung aber nur noch weiter angefacht – ein Teufelskreis, den Erdogan selbst mit verursacht.
Hintergrund der Problematik ist Erdogans Bestreben, das Wirtschaftsmodell der Türkei umzubauen. Ziel ist offenbar eine stark exportorientierte Wirtschaft mit eher niedrigen Löhnen und einem niedrigen Wechselkurs. Beides würde türkische Waren für ausländische Käufer preislich attraktiv machen. Die Zinsen im Land sollen ebenfalls niedrig gehalten werden, um Wohneigentum zu fördern. Aus diesen Gründen sperrt sich der Staatschef gegen eine Erhöhung des Leitzinses – normalerweise das Mittel im Kampf gegen stark steigende Verbraucherpreise laut herrschender Ökonomenansicht.
Davon hält Erdogan allerdings nichts; er möchte über niedrige Zinsen Kredite und Investitionen ankurbeln. Am Sonntagabend sagte er, "ich werde nicht zulassen, dass meine Mitbürger, mein Volk, von Zinsen erdrückt werden". Volkswirtschafts-Professor Ümit Akcay von der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht sah hingegen bereits vor zwei Jahren das schuldengetriebene Wachstumsmodell der Regierungspartei AKP am Ende.
Erdogan hielt weiter daran fest. Er übte fortlaufend Druck auf die Notenbank aus, die Zinsen weiter zu senken. Und er hat bereits mehrfach Notenbankmitglieder entlassen, die sich seinem Kurs widersetzt haben, seit 2019 traf es allein drei Zentralbankchefs. Die Zentralbank ist zwar nominell unabhängig, seit dem vergangenen Jahr ist sie aber zu einem wesentlichen Teil mit Unterstützern und Verbündeten Erdogans besetzt. Und der wütet weiter: Vergangenen Mittwoch feuerte er Finanzminister Lütfi Elvan und ersetzte ihn durch seinen Vertrauten Nureddin Nebati. Schuld an Problemen sind eben andere.
Wachstum auf Pump
Allerdings: Das Wachstum auf Pump hält an. Noch. Die türkische Wirtschaft war im dritten Quartal offiziellen Angaben zufolge um 7,4 Prozent im Vorjahresvergleich gewachsen. Im Gesamtjahr soll das Wachstum rund neun Prozent betragen.
Doch die Frage ist längst nicht mehr ob, sondern wann der große Knall kommt. Anders als beim Währungsverfall 2018 kommt es seit einigen Wochen vermehrt zu Protesten. Vor allem Studenten sowie linke Gewerkschaften und Parteien mobilisieren zu den Demonstrationen, die sich bisher vor allem auf Istanbul und Ankara konzentrieren. "Zu einer breiteren gesellschaftlichen Mobilisierung ist es bislang jedoch nicht gekommen. Dass die Proteste (...) überhaupt stattfinden, ist angesichts des innenpolitisch repressiven Klimas aber bereits bemerkenswert", schreibt der Türkei-Experte Axel Gehring in einer aktuellen Analyse für die Linkspartei-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Die Wählerschaft könnte die AKP und auch Erdogan bei den nächsten Wahlen abstrafen. Weil die Abstimmungen zur Präsidentschaft und zum Parlament erst für 2023 terminiert sind, drängt die Opposition bereits auf vorgezogene Neuwahlen. Erdogan weist die Forderungen zurück.
Unternehmer fordern Erdogan zur Kurskorrektur auf
Parallel wächst der Druck aus der Wirtschaft, die wegen der Entwicklung Importe kaum noch bezahlen kann. Zugleich halten sich wegen der unkalkulierbaren Wirtschaftslage ausländische Investoren zurück
Der Unternehmerverband Tüsiad forderte Präsident Erdogan am Wochenende zu einer Korrektur seiner Geldpolitik auf. Politische Entscheidungen des Staatschefs hätten "nicht nur der Wirtschaft, sondern auch den Bürgern neue Schwierigkeiten bereitet", heißt es in einer Erklärung. Der Verband vertritt 85 Prozent der türkischen Exportunternehmen.
Tüsiad habe bereits "vor den Risiken einer starken Abwertung der Lira, einer galoppierenden Inflation" sowie einer Gefährdung des Wachstums und des Arbeitsmarkts und einer drohenden "Verarmung unseres Landes" gewarnt. Es sei nun "dringend geboten, den wirtschaftlichen Schaden zu bewerten und zu den im Rahmen der Marktwirtschaft etablierten ökonomischen Grundsätzen zurückzukehren", forderte der Verband.
"Die Inflation wird fallen – so Gott will"
Erdogan reagierte auf die Forderungen von Tüsiad mit einer Gegenattacke. "Sie haben nur eine Aufgabe: Investitionen, Produktion, Arbeitsplätze und Wachstum sicherzustellen", sagte er in einer am Sonntagabend ausgestrahlten Fernsehansprache.
In der ausgestrahlten Rede versprach Erdogan erneut, den starken Anstieg der Verbraucherpreise im Land zu drosseln. "Die Inflation wird sobald wie möglich fallen – so Gott will", sagte der Präsident. Seit 2017 steigt die Inflation unaufhörlich an. Offiziellen Angaben zufolge liegt sie aktuell bei über 21 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland lag der Wert im November bei 5,2 Prozent. In diesem Bereich liegt auch das offizielle Ziel der türkischen Regierung.
Nicht nur die Opposition stellt die offiziellen Daten infrage. Auch Analyst Timothy Ash zeigte sich erstaunt: "Die Lira fällt um 30 Prozent in einem Monat und die Preise steigen nur um 3,5 Prozent" im Vormonatsvergleich? "Das ergibt keinen Sinn." Er habe "ernste Zweifel" an den offiziellen Daten zur Inflation.
Im Fall der 38 Angeklagten gibt es bislang noch kein Urteil, zu dem geplanten Prozesstag am 19. November war der Richter überraschend nicht erschienen. Vielleicht auch, weil die Realität die Prognosen längst überholt hat: Die Lira ist unterdessen tiefer gesunken, als die Angeklagten in ihren Tweets vor drei Jahren vermutet hatten.
Verwendete Quellen:
- Bundeszentrale für politische Bildung: "Aufstieg und Fall des Wirtschaftsmodells der AKP"
- Rosa-Luxemburg-Stiftung: "Das türkische Dilemma"
- Friedrich-Ebert-Stiftung: "Wirtschaftswachstum um jeden Preis"
- Meldungen der Nachrichtenagenturen dpa und AFP
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