Die neue Ampelregierung stellt sich unter das Motto "Mehr Fortschritt wagen". Was die eigene Regierung anbetrifft, wird das schon mal nicht eingehalten. Statt mutiger Innovationen und einem überfälligen Digitalministerium gibt es Rückschritte. Die Bauministerin Klara Geywitz kündigt sogar Plattenbauten an.
"Mehr Fortschritt wagen", lautet das Motto der neuen Ampelregierung. Grünen-Parteichef
Das von Liberalen jahrelang energisch geforderte Digitalministerium wird es nicht geben. Digitalisierung wird rhetorisch als ein zentrales Fortschrittsfeld definiert, aber selbst will man den ersten wichtigen Schritt nicht gehen. Dabei stehen noch heute auf den Homepages von Liberalen Sätze wie: "Die Bundesregierung braucht ein Digitalministerium, um Verwaltung und Netzinfrastruktur zu modernisieren. Es ist offensichtlich, dass es der Bundesregierung an Führung und Koordination in der Digitalpolitik fehlt."
Digitalministerium sollte sich um "Datenschutz, Digitalisierung der Verwaltung oder digitale Sicherheit" kümmern
Deutschlands Internetbranche reagiert enttäuscht bis entsetzt. Ausgerechnet eine Fortschrittsregierung schaffe diesen überfälligen Schritt nicht und lasse das Schlüsselthema im Verkehrsministerium stecken, kritisieren Digitalexperten mehrerer Branchen. "Die neue Bundesregierung muss die öffentliche Verwaltung mit Hochdruck modernisieren", begründete etwa der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, seine Forderung nach einem Digitalministerium. Bitkom-Präsident Achim Berg sagte, die Digitalisierung dürfe kein Anhängsel sein. "Sie gehört ins Zentrum".
Der Digitalverband setzt sich seit Langem für ein eigenständiges Ministerium ein, in dem die Ressourcen gebündelt werden. Auch der Verband der Internetwirtschaft, eco, unterstützte die Forderung. "Ein eigenes Digitalministerium sollte die strategisch wichtigen Fragen wie Datenschutz, die Digitalisierung der Verwaltung oder digitale Sicherheit bündeln, sagt eco-Geschäftsführer Alexander Rabe. Und der Breitbandverband Breko verspracht sich dadurch "einen echten digitalpolitischen Aufbruch" und "mehr Schlagkraft".
Jens Hungershausen, der Vorsitzende der deutschsprachigen SAP-Anwendergruppe, sagte, Deutschland liege in puncto digitale Wettbewerbsfähigkeit europaweit auf dem vorletzten Platz. Vor allem in der Bildung und in der öffentlichen Verwaltung gebe es Defizite, so Hungershausen. Es fehle an Geschwindigkeit, Verantwortlichkeit und konkreter Umsetzung. Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer des Branchenverbands Bitkom, brachte es auf den Punkt: "Wir brauchen jemanden am Kabinettstisch, dessen DNA Digitales ist."
Bauministerium: Blütezeit in den Nachkriegsjahren der 50er
Nun kommt es anders. Die bayerische Digitalministerin Judith Gerlach (CSU) kritisierte daher deutlich: "Die Ampelkoalition war mit wortreichen Ankündigungen für einen digitalen Aufbruch gestartet. Jetzt sehen wir schon zu Beginn den ersten Ampelausfall. Die Digitalisierung wird durch eine künstliche Anbindung ans Verkehrsressort zum Anhängsel degradiert." Denn gleichzeitig zur Absage an ein Ministerium wird nach nur dreieinhalb Jahren auch das Amt einer Staatsministerin für Digitalisierung im Kanzleramt schon wieder abgeschafft.
Statt eines Digitalministeriums gibt es nun ausgerechnet ein neues Ministerium für Bauen & Wohnen. Das gab es von 1949 bis 1998 schon einmal, weil nach dem Weltkrieg in zerstörten Städten die Wohnungsknappheit so dramatisch war. Mit der Wiedereinführung einer alten Institution, die in den 50er-Jahren ihre Blütezeit hatte, setzte sich die SPD in der Ampelkoalition durch.
Doch der Wohnungsbau ist nicht gerade ein Fortschrittscluster und bräuchte eigentlich kein eigenes Ministerium. Doch die SPD folgt damit einer Forderung der ihr nahestehenden IG Bau. Der Bundesvorsitzende der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU), Robert Feiger, hatte verlangt: "Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass sich die soziale Frage des Wohnens nicht mit einem 'Anhängsel-Ressort' lösen lässt."
Experten wundern sich über den Erfolg der Gewerkschaftslobby. Denn der Wohnungsbau ist auch ohne Ministerium derzeit auf dem Weg zur Wunschmarke von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr - so verlangt es der Koalitionsvertrag. Die Zahl der Baugenehmigungen ist im Jahr 2020 mit 368.589 um 2,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen.
Das Statistische Bundesamt meldet, dass Deutschland im Corona-Krisenjahr 2020 sogar den höchsten Stand seit 2001 erreicht habe. Die Zahl der fertiggestellten Wohnungen erhöhte sich um 4,6 Prozent auf 306.376 Einheiten. Der im Jahr 2011 begonnene Anstieg habe sich damit weiter fortgesetzt. Die Mieten hingegen sind durch die Pandemie in vielen Städten leicht gefallen. Ein neues Wohnungsbauministerium scheint den meisten Immobilienexperten überflüssig.
Agil, digital, dezentral – nichts davon bietet die Ampelregierung
Die ersten Einlassungen der neuen Bundesbauministerin
Dabei würden "Module eingesetzt", die anderswo gefertigt und zusammengebaut würden. Vor Ort müssten nur noch die Bodenplatte gesetzt und die Module aufgebaut werden, erklärte Geywitz dem Bayerischen Rundfunk: "Das entlastet den Bauprozess, macht ihn schneller und vermeidet auch sehr viel Baulärm und lange Bauzeiten in den Innenstädten", sagte sie, als sei die Baubranche ein Kindergarten mit Sandkastenregeln.
Doch Fortschritt wagten die Koalitionäre auch nicht beim Thema Klimapolitik. Hier wäre die Schaffung eines modernen, zentralen Klimaministeriums ein innovativer Schritt gewesen. Stattdessen wird eigens für Robert Habeck das Wirtschaftsministerium um die Bereiche Energie und Klima erweitert. Das bisherige Umweltministerium aber bleibt bestehen. Auf künftige Klimagipfel reisen aus Deutschland also mindestens zwei Ressortverantwortliche - eine fortschrittliche Bündelung der Themen ist nicht gelungen.
Insgesamt fehlt dem Organigramm der neuen Regierung jeder Fortschrittsimpuls. So war im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen diskutiert worden, ob Deutschland nicht mit einer Zusammenlegung des Entwicklungshilfeministeriums mit dem Außenamt moderner dastehen würde, auch die Schaffung eines Migrationsministeriums wäre denkbar gewesen. Mutige Reformer hatten gar gehofft, dass ein modernerer Staat aus der alten Ministeriumsdenke in eine neue Matrixstruktur eintreten würde.
Das Ressortprinzip, das jedem Ministerium große Unabhängigkeit gibt, hat sich in seiner überkommenen Form – insbesondere bei Querschnittsthemen wie der Digitalisierung – zum Hemmnis entwickelt. Agiler, digitaler, dezentraler müsste eine moderne Regierungsstruktur aufgebaut sein. Nichts davon bietet die neue Regierung. Nur ein Bauministerium mit Plattenbauplänen. Der Fortschritt bleibt aus.
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