Angela Merkel hat unter anderem für ihren humanitären Einsatz für Flüchtlinge den renommierten Four-Freedoms-Award erhalten. Aber ist diese Auszeichnung auch wirklich gerechtfertigt? Von der Willkommenskultur des Vorjahres hat sich die Kanzlerin schließlich längst verabschiedet.
John F. Kennedy, Nelson Mandela, Kofi Annan: Die Liste der Preisträger des Four-Freedoms-Awards liest sich wie ein "Who is who" der internationalen Politik.
Angela Merkel und die Moral
Nun hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel den internationalen Preis der Roosevelt-Stiftung erhalten. Die CDU-Vorsitzende habe im Zusammenhang mit dem Aufkommen der Anti-Islam-Bewegung Pegida "große moralische Führung" bewiesen und sich klar gegen Rassismus positioniert, hieß es in der Begründung der Jury.
"In der aktuellen Flüchtlingskrise plädiert
Nur: Von der Willkommenskultur aus dem Vorjahr ist nicht mehr viel übrig geblieben. Eine humanitäre Geste, wie die Aufnahme der im Spätsommer in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge, wird es 2016 aller Voraussicht nach nicht noch einmal geben.
Die Kanzlerin befindet sich im Spannungsfeld zwischen Moral und Realpolitik.
Das Blatt wendet sich gegen Merkel
Als sich Angela Merkel im Spätsommer 2015 zur Aufnahme von Tausenden in Ungarn festsitzenden Asylbewerbern entschloss, begründete sie diese Entscheidung mit humanitären Gründen.
In einer Generaldebatte im Bundestag betonte die CDU-Vorsitzende, dass es nun "ganz besonders" auf Deutschlands "Kraft und Stärke" ankomme.
"Wenn wir mutig sind und manchmal vorangehen, dann wird es wahrscheinlicher, dass wir eine europäische Lösung in der Flüchtlingskrise finden", sagte Merkel vor gut einem halben Jahr. Inzwischen wurde die Kanzlerin von der Realpolitik eingeholt.
Im Innern macht ihr die beständige Kritik der Schwesterpartei CSU, das Erstarken der rechtspopulistischen AfD sowie die ablehnende Haltung – gar der Hass – in Teilen der Bevölkerung das Leben schwer.
Das Land ist in der Flüchtlingsfrage gespalten, erst recht nach Ereignissen wie der Silvesternacht von Köln.
Würde die Zuwanderung auch 2016 das Niveau des Vorjahres erreichen, – bisher sieht es nicht danach aus – könnte das durch einen Koalitionsaustritt der CSU sogar zum Sturz Merkels führen.
Auch wenn dieses Szenario eher unwahrscheinlich ist, da die CSU ihren Einfluss in der Regierung "ganz bestimmt nicht verlieren" will, wie der Politologe Carsten Koschmieder von der Freien Universität Berlin im Gespräch mit unserer Redaktion erklärte.
Die angedrohte Klage Bayerns vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Asylpolitik und die Stimmung in der Bevölkerung haben ihre Wirkung auf Merkel dennoch nicht gänzlich verfehlt.
Die Bundesregierung hat die Asylgesetzgebung zuletzt verschärft, indem beispielsweise der Familiennachzug erheblich erschwert wurde.
Außenpolitik konterkariert Merkels Anspruch
Dann gibt es noch außenpolitische Faktoren, die Merkels Politik der offenen Grenzen de facto ein Ende setzten. Die nationalen Grenzschließungen einiger EU-Staaten und die fehlende Solidarität in Sachen Flüchtlingsverteilung laufen dem Ansinnen der CDU-Vorsitzenden nach einer breiten europäischen Lösung zuwider.
Auch wenn sie das Herunterlassen der Schlagbäume in Österreich, Ungarn oder Mazedonien stets kritisierte, war in Teilen der Bundesregierung durchaus Erleichterung über die faktische Schließung der Balkanroute zu spüren. Etwa bei Bundesinnenminister Thomas de Maizière.
Auch Merkel passte sich rhetorisch der neuen Situation an. Die Bilder im überfüllten und verschlammten Flüchtlingslager im griechischen Idomeni kommentiere sie vor fünf Wochen so:
"Es gibt Übernachtungsmöglichkeiten und Aufenthaltsmöglichkeiten in Griechenland, und die müssten auch von den Flüchtlingen genutzt werden." Es gebe kein "Recht darauf, dass ein Flüchtling sagen kann: 'Ich will in einem bestimmten Land der Europäischen Union Asyl bekommen'."
Angela Merkel und der Kurswechsel
Als "Kurskorrektur" wurden diese Worte von "Spiegel Online" kommentiert. Schließlich war es der vielfach kritisierte Flüchtlingsdeal mit der Türkei, der ihren Kurswechsel besiegelte. Die "große moralische Führung" der Kanzlerin, die die Preis-Jury lobte, hat inzwischen ein paar Kratzer bekommen.
Fast fühlt man sich an die Debatte um die Friedensnobelpreis-Vergabe an US-Präsident Barack Obama erinnert. 2009, als er den Preis erhielt, stockte er die Truppenstärke der US-Armee in Afghanistan deutlich auf.
Das Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba hat Obama trotz vielfacher Ankündigungen seit seinem Amtsantritt 2008 nicht schließen können.
Realpolitik und der eigene moralische Kompass lassen sich manchmal nur schwer in Einklang bringen. Das hat jetzt auch Angela Merkel erfahren.
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