Damit der Staat funktioniert, müssen die Gerichte arbeiten können. In Thüringen sehen Experten das in Gefahr. Denn die AfD wirft der Justiz Stöcke zwischen die Beine – sie will sich damit Posten absichern.

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Wenn nicht genug Personal vorhanden ist, bleibt schon mal Arbeit liegen. So geht es vielen Unternehmen in Deutschland, die über Personalmangel klagen. Aber nicht nur Firmen kämpfen mit zu wenigen Händen für zu viel Arbeit – auch die Justiz kommt oft nicht hinterher.

Rund 933.000 offene Fälle gab es Mitte März in Deutschland, laut einer Umfrage der Deutschen Richterzeitung. "Die Alarmsignale für einen überlasteten Rechtsstaat häufen sich", kommentierte der Geschäftsführer des Deutschen Richterbunds.

Thüringen steht in der Liste der Bundesländer mit den meisten offen Fällen zwar nicht auf den vorderen Plätzen. Trotzdem machen sich Experten Sorgen um die Justiz im Freistaat. Der Grund: Mit einer Blockade im Landtag befeuert die AfD die Engpässe in der Judikative.

Thüringen: Richter- und Staatsanwaltsausschuss als Druckmittel

Konkret geht es um die Neubesetzung zweier für die Strafverfolgung wichtiger Gremien: dem Richter- und dem Staatsanwaltswahlausschuss. Die Mitglieder der Ausschüsse sind für die Überprüfung der Eignung potenzieller Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte zuständig.

Die Gremien bestehen jeweils aus zwei Teilen. Einer davon setzt sich aus fünf Richtern beziehungsweise fünf Staatsanwälten zusammen. Der andere aus zehn Mitgliedern des Landtags, bei denen jede Fraktion mit mindestens einer Person vertreten sein muss. Gewählt werden diese Abgeordneten eigentlich zu Beginn jeder Wahlperiode.

Doch selbst mehr als ein halbes Jahr nach dem Urnengang ist man davon in Erfurt noch weit entfernt. Nur die Kandidaten der AfD wurden bislang erfolgreich gewählt. Die Abgeordneten, die CDU, BSW, SPD und Linke ins Rennen schickte, fielen schon mehrfach durch. Zuletzt wiederholte sich das Schauspiel Anfang April.

Denn seit der Wahl in Thüringen ist die AfD stärkste Kraft, hält 32 der 88 Sitze im Landesparlament. Damit verfügt sie über eine sogenannte Sperrminorität und kann alle Entscheidungen blockieren, für die eine Zweidrittelmehrheit nötig ist. So wie bei der Wahl der Ausschussmitglieder.

Experten hatten vor der Wahl genau vor diesem Szenario gewarnt. Auch, weil das Vorgehen für die AfD nicht gänzlich neu ist. Bereits in der Vergangenheit hatte die Partei damit gedroht, die beiden Ausschüsse lahmzulegen. Der ehemalige Ministerpräsident Bodow Ramelow (Linke) sprach 2020 etwa von "einer Erpressungssituation".

Nun macht die AfD ernst und nutzt die Ausschüsse ganz offen als Druckmittel. Ihr Ziel: Die anderen Fraktionen sollen ihr mehrere Ämter im Landtag zusichern.

Streit um Landtagsvize-Kandidaten

Eine der Personalien, um die es der AfD geht, ist der Landtagsvizepräsident. Laut Geschäftsordnung soll jede Fraktion im Vorstand des Landtags vertreten sein. Entweder indem sie den Präsidenten stellt oder einen seiner Stellvertreter.

Doch bislang stellt die AfD keinen der Vertreter. Nach der Wahl hatte sie zunächst Wiebke Muhsal für das Amt aufgestellt. Weil diese in der Vergangenheit rechtskräftig wegen Betruges verurteilt worden war, sahen die anderen Fraktionen das als Provokation und ließen sie durchfallen.

Jörg Prophet soll nach dem Willen der AfD ihr Landtagsvizepräsident in Thüringen werden. Doch weil er mehrfach die NS-Vergangenheit verklärte, halten die anderen Fraktionen ihn für ungeeignet. © picture alliance/dpa/Martin Schutt

CDU und BSW betonen jedoch, dass sie bereit wären, einen geeigneten Kandidaten der AfD zu wählen, wenn diese dafür die Blockade bei den Justizausschüssen aufgeben würden. Doch inzwischen will die AfD unbedingt den Abgeordneten Jörg Prophet in dem Amt sehen – und der gilt fraktionsübergreifend als unwählbar.

Prophet war in der Vergangenheit immer wieder mit geschichtsrevisionistischen Aussagen aufgefallen. Dabei verharmloste er auch die NS-Herrschaft, setzte etwa die US-Streitkräfte, die das KZ in Dora befreit haben, mit den Aufsehern dort gleich.

Auch der Historiker und Leiter der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, Jens-Christian Wagner, warnt vor Prophet. Die AfD stelle mit ihm jemanden als potenziellen Vizepräsidenten auf, "der die NS-Verbrechen wiederholt verharmlost hat – für die Überlebenden des NS-Terrors ein unerträglicher Gedanke", schrieb Wagner Anfang des Jahres in einem öffentlichen Aufruf an den Landtag.

Zur Kritik an AfD-Politiker Jörg Prophet

  • In Zusammenarbeit mit der Friedrich-Schiller-Universität Jena haben die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora eine Übersicht über die Aussagen Prophets mit Einordnung erstellt. Diese finden Sie hier.
  • Die Übersicht ist Teil des Projekts "Geschichte statt Mythen". Es soll mit historischen Fakten Geschichtsrevisionismus entgegenwirken.

AfD will Verfassungsschutz kontrollieren, obwohl der sie beobachtet

Neben dem Landtagsvize will sich die AfD mit ihrer Blockade zwei Sitze in der Parlamentarischen Kontrollkommission (PKK) und einen in der G10-Kommission sichern. Schon in den vergangenen Jahren hatte die Besetzung der Kommissionen für Streit gesorgt. Die PKK war etwa jahrelang noch mit Mitgliedern aus einer bereits abgelaufenen Legislaturperiode besetzt.

Auch weiterhin schließen alle anderen Fraktion eine Beteiligung der AfD in den Kommissionen kategorisch aus. Und das aus gutem Grund.

Denn die Kommissionen sind jeweils für die Kontrolle des Verfassungsschutzes zuständig. Die PKK kontrolliert den Inlandsgeheimdienst und dessen Tätigkeiten im Allgemeinen, während die G10-Kommission für die Überprüfung sogenannter Beschränkungsmaßnahmen zuständig ist. Sie prüft etwa, ob der Verfassungsschutz bei bestimmten Personen Telefone abhören oder Chats mitlesen darf.

Und genau darin liegt auch der Grund, für das strikte Nein der anderen Parteien zu AfD-Vertretern in den Kommissionen. Denn die AfD wird in Thüringen selbst vom Verfassungsschutz beobachtet. Seit 2021 wird der Landesverband als "erwiesen rechtsextremistische Bestrebung" eingestuft. Dazu wurde der Thüringer-AfD-Chef Björn Höcke mehrfach wegen der Verwendung von verbotenen Nazi-Parolen verurteilt. 2019 urteilte ein Gericht sogar, man dürfe Höcke als Faschist bezeichnen.

Deswegen haben die anderen Fraktionen jetzt Nägel mit Köpfen gemacht. Anfang April wurden beide Kommissionen neu besetzt. Möglich war das, weil CDU, BSW, SPD und Linke zuvor einen Gesetzesentwurf verabschiedet hatten, durch den für die Auswahl der Kommissionsmitglieder keine Zweidrittelmehrheit mehr notwendig ist .

Bei der AfD stößt das auf Kritik. Ringo Mühlmann, innenpolitischer Sprecher der Landtagsfraktion, warf den anderen Parteien in einem Statement auf der AfD-Website vor, "die gesetzlichen Grundlagen für die Gremien zur Kontrolle der Geheimdienstmaßnahmen im Freistaat nun zum wiederholten Male an die immer schlechteren Wahlergebnisse ihrer Parteien angepasst" zu haben.

Die übrigen Parteien begründen den Schritt mit der Sorge um die Integrität der Kommissionen. Würde man die AfD an der Kontrolle des Inlandsgeheimdienstes beteiligen, wäre das in ihren Augen so, als würde man einen verurteilten Steuerhinterzieher den Cum-Ex-Skandal aufarbeiten lassen.

Richterbund schlägt Alarm

Ob damit nun ein Einlenken der AfD bei der Blockade der Justizausschüsse endgültig vom Tisch ist, ist derzeit unklar. Höcke hatte in der Vergangenheit betont, dass man keine Kompromisslösungen akzeptieren wolle – sondern die Posten als Gesamtpaket fordere. Bislang zeichnet sich keine Lösung ab.

Der Thüringer Richterbund (TRB) schlägt deshalb Alarm. Im Freistaat stehe eine Pensionierungswelle in der Justiz bevor, die einen "dramatischen Personalschwund" mit sich bringen werde. Dass Nachbesetzungen durch die "Lahmlegung des hierfür zuständigen Gremiums" bedroht würden, sei "in keiner Weise akzeptabel". Die "unabhängige und funktionstüchtige Justiz" dürfe "nicht zum bloßen parteipolitischen Spielball werden".

Zumindest beim Staatsanwaltswahlausschuss könnte die Regierung von Ministerpräsident Mario Voigt ähnlich verfahren wie bei den beiden Kommissionen. Denn dieser Ausschuss ist nur per einfachem Gesetz geregelt. Der Richterwahlausschuss ist hingegen in der Thüringer Verfassung festgehalten. Für eine Neuregelung seiner Besetzung bräuchte es also eine Zweidrittelmehrheit – und damit auch Zustimmung aus der AfD

Kein Stillstand, aber auch keine Lösung – so könnte es weitergehen

Ein völliger Stillstand der Justiz in Thüringen ist trotz allem nicht zu befürchten. Einerseits kann die amtierende Justizministerin Beate Meißner (CDU) auch ohne Ausschuss über Richter- und Staatsanwaltkandidaten entscheiden. Allerdings können diese so nur vorläufig angestellt werden. Für eine Berufung auf Lebenszeit müssen sie von den Ausschüssen abgesegnet werden.

Andererseits können auch die bisherigen Ausschüsse als Übergangslösung weiterhin über die Ernennung abstimmen. Zu diesem Ergebnis kommt zumindest ein Gutachten im Auftrag des Thüringer Justizministeriums .

Doch dadurch sind die Ausschüsse stark ausgedünnt. Jeweils nur vier ordentliche Mitglieder plus eine Stellvertreterin aus dem vorherigen Landtag sind auch im neuen Parlament vertreten. Dazu kommt: Eines dieser Mitglieder ist Meißner selbst. Das ist zwar nicht untersagt, hinterlässt aber trotzdem einen faden Beigeschmack.

So oder so warnt der TRB davor, sich mit dieser Situation abzufinden. Es bestehe die Gefahr, dass dadurch "die Attraktivität des Thüringer Justizdienstes erheblich belastet wird, da eine solche politische Instabilität für die zahlreich und dringend benötigten potentiellen Bewerber ein fatales beziehungsweise abschreckendes Signal aussendet".

Genau das könne man sich in Thüringen nicht leisten, sagte Justizministerin Meißner bei einer Pressekonferenz Anfang März. Aber wie sich das Problem lösen lässt – darauf hat die Ministerin genauso wenig eine Antwort wie die Unternehmen in Deutschland auf den Fachkräftemangel.

Verwendete Quellen