Würzburg, München, Reutlingen, Ansbach: Nach den schrecklichen Anschlägen der letzten Woche haben viele Menschen Angst, sich im öffentlichen Raum unbefangen zu bewegen. Diese Angst kann auch zu Verhaltensänderungen führen. Prof. Dr. Andreas Fallgatter warnt genau davor und gibt hilfreiche Ratschläge.
Im Interview mit unserer Redaktion erklärt der Ärztliche Direktor des Universitätsklinikums Tübingen für Psychiatrie und Psychotherapie, warum es jetzt ganz falsch wäre, einfach nur zu Hause zu bleiben und warum die schrecklichen Ereignisse unsere Gesellschaft auch wieder näher zusammenbringen können.
Herr Fallgatter, nach den Anschlägen der letzten Woche haben viele Menschen Angst, zum Beispiel vor großen Menschenansammlungen auf öffentlichen Plätzen, vor Bahn-Fahrten oder Konzertbesuchen. Soll und darf man seine Angstgefühle zulassen?
Prof. Dr. Fallgatter: Wenn es geht, sollte man seine Ratio einschalten und vernünftige, gut abgewogene Argumente im Kopf präsent haben, die einem klarmachen, dass objektiv betrachtet kein Grund für eine übermäßige Angst besteht. Oft ist es allerdings so, dass, wenn das Irrationale zunimmt, die Rationalität nicht mehr die nötige Durchschlagskraft hat. Die Angst ist dann trotzdem da und wird immer stärker - und das ist die Situation unter der viele Menschen im Moment leiden.
Was können die Folgen sein?
Die fatale Konsequenz aus diesem subjektiven Empfinden wäre, dass man sich gar nicht mehr dorthin begibt, wo möglicherweise eine Anschlagsgefahr besteht, zum Beispiel Menschenansammlungen, große Konzerte, politische Demonstrationen. Aber wenn man das mal durchdenkt, würde es in der Konsequenz bedeuten, dass man sich am Ende gar nicht mehr aus dem Haus bewegt. Denn die Gefahren lauern ja potenziell überall, wie gerade die letzten Ereignisse gezeigt haben.
Denn das waren ja gerade nicht besondere Situationen wie ein EM-Endspiel, sondern Alltagsmomente wie eine Bahnfahrt im Regional-Zug oder ein kleines Musikfestival abseits der großen Zentren. Und wer sich nicht mehr raus traut, wird bald feststellen: Auch zu Hause sind wir nicht vollkommen sicher.
Was können Menschen tun, die trotzdem nicht gegen die eigene Angst ankommen?
Eine gute Strategie ist, dass man sich mit Freunden, Verwandten oder Bekannten unterhält, die weniger ängstlich sind und solchen Situationen ohne Furcht begegnen. Es ist sinnvoll, zusammen mit jemandem gemeinsam in so eine Situation zu gehen, die man sonst vermeiden würde.
Das klappt oft ganz gut und die Ängstlichen machen im Idealfall die Erfahrung, dass es eigentlich gar nicht so schlimm war, wie befürchtet - und dass sie die Situation gut überstehen können. Vor allem, wenn man sich mit der Begleitung nicht über die Terrorangst unterhält, sondern über andere Themen - und vielleicht sogar gemeinsam eine gute Zeit hat.
Könnte in Zukunft so etwas wie eine Gewöhnung an die Bedrohung einsetzen?
Es ist tatsächlich so, dass das Neue und Unbekannte besonders Angst machen kann. Wenn wir uns jetzt einmal überlegen, dass es künftig möglicherweise auch bei uns regelmäßig Terror-Attacken geben wird, dann wird da auch eine gewisse "Immunisierung" einsetzen bei den Menschen. Die sagen dann vielleicht, beim zweiten Mal schockiert es mich gar nicht mehr so. Und es betrifft mich gar nicht mehr so stark, wenn das irgendwo in Deutschland passiert.
Wenn Sie heute zum Beispiel am Strand von Tel Aviv entlang spazieren, haben Sie nicht das Gefühl, dass die Lebensqualität durch die andauernde Bedrohung durch den Terror leidet, weil viele Menschen sich daran schlicht gewöhnt haben. So weit sind wir heute in Deutschland noch nicht. .
Zu Hause zu bleiben ist jedenfalls keine gute Idee?
Auf keinen Fall. Denn es geht ja nicht darum, irgendwie zu überleben, sondern es geht auch um unsere Lebensqualität. Diese Anschläge haben ja, so entsetzlich sie sind - vorsichtig formuliert - auch verbindende Aspekte. Es ist zum Beispiel ein stärkerer Zusammenhalt der Menschen zu spüren.
Es gibt den Tenor, wir lassen uns von den Terroristen unser westliches Leben nicht völlig einschränken - und wir ändern auch nicht unsere Gewohnheiten. Es gab in Paris und jetzt auch in München einen deutlich größeren Zusammenhalt in der Bevölkerung - im Prinzip das Gegenteil von dem, was die Terroristen bezweckten.
Was können Politik und Medien tun, damit es bei diesem Zusammenhalt auch bleibt und die Angst nicht dominiert?
Vor allem die Medien spielen eine ganz große Rolle. Mit der Bereitschaft, Amokläufe oder Terrorattacken zu verüben, verhält es sich ganz ähnlich wie mit der Bereitschaft, Suizid zu begehen. Je mehr das in der Öffentlichkeit diskutiert wird, desto mehr können diese Ereignisse zunehmen.
Vor allem, wenn die Diskussion einen positiven Unterton hat, wenn man zum Beispiel bei Suizid von einem Freitod spricht. Oder der Attentäter als mysteriöse Macht gezeichnet wird, anstatt ihn als einen verletzlichen Menschen mit Problemen auch negativ darzustellen.
Wir wissen aus der Vergangenheit, dass Menschen, die mit der Idee zu solchen Taten spielen, imitieren, was sie in den Medien gelesen haben - bis hin zu Details wie Kleidung, Vorgehen etc. Und diese Menschen suchen oft die Aufmerksamkeit, die ihnen die Medien entgegenbringen.
Wäre es also richtig, gar nicht mehr über Attentate in den Medien zu berichten?
Das wäre tatsächlich die beste Konsequenz. Es ist vielleicht nicht möglich, diese Geschehnisse ganz aus den Nachrichten rauszuhalten, aber eine streng sachliche, auf den wesentlichen Nachrichtenwert beschränkte Berichterstattung wäre schon ein Anfang. Bei Suiziden gibt es in diesem Zusammenhang schon einen Pressekodex. Und ganz ähnlich müsste das aus meiner Sicht auch bei Terrorattacken und Amokläufen sein. Die Wahrscheinlichkeit von Nachahmungstätern könnte dadurch sinken.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.