Seit dem mutmaßlich islamistischen Anschlag in Solingen hat sich der Ton gegenüber Zuwanderern und Flüchtlingen verschärft: Politiker wollen das Asylrecht einschränken, an den Grenzen Menschen abweisen. Was macht das mit denen, die in Deutschland Zuflucht gesucht und gefunden haben?

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Sie kamen nach Deutschland, weil sie sich hier ein sichereres Leben erhofften. Sie fanden diese Sicherheit, doch inzwischen sind die Zweifel zurück.

"Früher dachte ich immer, ich lebe in einem sicheren Land. Heute sieht das anders aus", sagt Nadine Joudi, die vor einigen Jahren aus Syrien nach Deutschland kam. Ähnlich geht es Merhawi Baire: "Ich kannte die deutsche Vergangenheit, aber als ich hierherkam, habe ich sie kaum wahrgenommen. Heute wird sie immer präsenter."

Wir haben mit Nadine und Merhawi über ihren Weg nach Deutschland gesprochen – und über die Rückkehr der Angst, zur Zielscheibe von Fremdenhass und Gewalt zu werden.

Nadine, 29, aus Syrien

Ihre Flucht nach Deutschland

Als Nadine 2013 nach Deutschland kam, war sie gerade volljährig. Ihre Heimat, die vertraute Sprache, die Umgebung – all das hatte sie hinter sich gelassen. Dennoch fühlte sie sich sicher.

Zum ersten Mal seit langem. In ihrem Heimatland Syrien herrscht seit 2011 Krieg. Das Regime von Baschar al-Assad geht gnadenlos gegen jeden vor, der es wagt, seine Stimme zu erheben oder der auch nur im Verdacht steht, oppositionelle Gedanken zu hegen. Hinzu kamen ständige Bombardierungen und Luftangriffe, die das Leben in den Städten unberechenbar und gefährlich machten.

Nadine sah nur einen Ausweg: die Flucht nach Deutschland.

Ein spürbarer Stimmungswandel: "Blicke verändern sich"

Bereut hat sie das nicht. Aber so richtig sicher fühle sie sich "in Deutschland nicht mehr". Da ist sie ganz ehrlich.

Seit dem Anschlag in Solingen und den jüngsten Wahlerfolgen der AfD steht auf einmal das im Grundgesetz verankerte individuelle Recht auf Asyl zur Diskussion. Und es ist nicht allein die AfD, die daran rüttelt. Solche Stimmen kommen auch aus FDP und CDU – aus der bürgerlichen Mitte also.

Deren Worte tragen eine unüberhörbare Ablehnung in sich, die Nadine seit einiger Zeit fast täglich zu spüren bekommt. Vor allem, wenn sie mit der U-Bahn fährt – in Berlin, der Stadt, in der sie lebt. "Ich spüre Gewalt, eine sehr subtile, nonverbale Gewalt. Blicke, Gesten, Verschlossenheit, Ignoranz." Insbesondere, wenn sie in der Öffentlichkeit Arabisch spreche, würden sich die Blicke verändern.

"Die Hemmschwelle, bei ausländisch aussehenden Menschen Gewalt auszuüben, wird immer niedriger."

Nadine, 29, aus Syrien

Körperlich wurde sie noch nie angegangen. Nadine spricht fließend Deutsch. Sprachen liegen ihr, sie arbeitet als Dolmetscherin. "Ich glaube, ich habe auch ein bisschen Vorteile durch mein Aussehen. Ich trage zum Beispiel kein Kopftuch", sagt sie und erzählt von einer Freundin, die kürzlich von einem Mann im Zug zu Boden gestoßen wurde. "Die Hemmschwelle, bei ausländisch aussehenden Menschen Gewalt auszuüben, wird immer niedriger." Einer anderen Freundin sei im Supermarkt eine Frau absichtlich mit dem Einkaufswagen in die Beine gefahren.

Die Ankunft war noch herzlich

Als Nadine damals in Deutschland ankam, fühlte sie sich willkommen. Im Gegensatz zu den meisten anderen syrischen Flüchtlingen musste sie keinen Asylantrag stellen, denn ihre Großmutter ist Deutsche. "Ich hatte automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft." Das deutsche Staatsangehörigkeitsgesetz sieht vor, dass dies unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist.

Trotzdem war ihr das Land fremd, die Sprache hatte sie nie gelernt. Zu Beginn lebte sie in einer Blase, abgeschirmt von der deutschen Gesellschaft. Ihre Kontakte waren andere Flüchtlinge, mit denen sie die Sprachkurse besuchte.

"Meine erste wirkliche Erfahrung mit der deutschen Gesellschaft machte ich, als ich ein Jahr später auf das Gymnasium kam, um mein Abitur zu machen." Dort wurde sie sofort freundlich aufgenommen, jeder war nett zu ihr, erinnert sie sich.

Tatsächlich gaben einer "Zeit"-Umfrage zufolge noch 2023 über 80 Prozent der Zugewanderten an, sich in Deutschland zugehörig zu fühlen. So wie Nadine. Ob das immer noch so ist?

Sie denkt erneut über Flucht nach – diesmal aus Deutschland

Nadine bezweifelt das: Schon die Sprache mache ihr Angst. Migranten würden plötzlich als "Gefahrenquelle" wahrgenommen. Die Parteien im Bundestag würden sich mit Anti-Migrationsrhetorik regelrecht übertrumpfen. Mehr Befugnisse für den Verfassungsschutz, verschärftes Waffenrecht, keine Sozialleistungen mehr für Dublin-Flüchtlinge, die aus sicheren Drittstaaten einreisen. Alles Pläne einer SPD-Frau, von Bundesinnenministerin Nancy Faeser.

Nadine findet das beschämend: "Als ob wir Syrer nicht selbst vor Menschen wie diesem Täter von Solingen geflohen sind. Der hätte doch das Gleiche in Syrien gemacht. Wie kann ein aufgeklärter Staat das derart instrumentalisieren?"

Nadine befürchtet neue Terroranschläge, diesmal von rechts. Sie überlegt bereits ernsthaft, wohin sie als nächstes flüchten kann. "Allein das zeigt schon, dass ich mich nicht mehr zu Hause fühle."

Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), für die rund 3.000 Menschen mit Migrationshintergrund befragt wurden, denkt mittlerweile fast ein Viertel von ihnen darüber nach, Deutschland wieder zu verlassen.

Merhawi, 46, aus Eritrea

Seine Flucht nach Deutschland

Merhawi kam 2016 als Flüchtling nach Hamburg. In seinem Heimatland Eritrea herrscht zwar kein Krieg, aber die Wunden des jahrzehntelangen Konflikts mit Äthiopien in den 1960er und 1970er Jahren sind noch immer zu spüren. Bis heute ist der Grenzverlauf zwischen den beiden Ländern umstritten. Junge Eritreer müssen einen langen Militärdienst ableisten. Viele von ihnen fliehen vor wirtschaftlicher Not und der Verweigerung grundlegender Bürgerrechte.

So auch Merhawi. Er entschied, seine Freunde, Familie und Heimat hinter sich zu lassen. "Ich wollte mir in Europa eine sichere Zukunft aufbauen."

Merhawi Baire

Allein, ohne seine Frau und seinen Sohn, führte Merhawis Fluchtweg durch den Sudan und schließlich nach Libyen. Um die Reise von dort fortsetzen zu können, musste er unterwegs hart arbeiten und sich Geld verdienen.

Nach Deutschland wollte er eigentlich gar nicht. "Deutschland hat diese düstere Vergangenheit." Doch er wurde dann positiv überrascht. Die Menschen waren wider Erwarten freundlich zu ihm, von Nazis keine Spur. Er war regelrecht erleichtert und freute sich auf seinen neuen Lebensabschnitt.

Überfordert, aber glücklich

Dieser begann an einem typischen Herbsttag in Hamburg: grau, regnerisch, nass. Und da stand er – in einem Land, dessen Sprache er nicht verstand und dessen Kultur ihm völlig fremd war.

Es dauerte eine Ewigkeit, erinnert Merhawi sich, bis ihm an jenem Tag eine Unterkunft zugewiesen wurde. "Luxus war das nicht", sagt er und erzählt, dass er sich ein kleines Zimmer mit vier anderen teilen musste. Doch die bescheidenen Verhältnisse machten ihm nichts aus. Denn er fühlte sich endlich sicher.

Klar, sei er zunächst völlig überfordert gewesen, sagt er. "Die Sprache, die Kultur, ich wusste nicht, wie ich mit den Leuten reden sollte." Selbst wenn er Englisch sprach, sei das keine Garantie dafür gewesen, dass man ihm auf Englisch antwortete.

Er hatte das Glück, vielen hilfsbereiten Menschen zu begegnen, die ihm Wege durch den deutschen Bürokratiedschungel ebneten: "Einmal musste ich zum Amt, um Papiere zu beantragen." Doch der Mann im Amt habe ihn nicht verstanden, also fragte er vor dem Bürogebäude eine freundlich aussehende Frau, ob sie ihm helfen könne, mit dem Mann im Amt zu sprechen. "Sie rief ihren Chef an und nahm sich den ganzen Vormittag frei, nur um mir zu helfen."

Kurz darauf begann Merhawi einen Sprachkurs. Es sei ihm schwer gefallen, Deutsch zu lernen, berichtet er. Das habe ihn vor große Herausforderungen gestellt – vor allem bei der Suche nach Arbeit. "Der Weg dahin war nicht leicht." Aber er hat sich durchgebissen und es geschafft, in Deutschland Fuß zu fassen. Seit zwei Jahren arbeitet er Vollzeit als Pfleger.

Die alten Ängste sind zurück

Die aktuelle Diskussion macht ihn jedoch zunehmend ratlos. Erst die Nazi-Parolen auf Sylt, dann die Attacke auf zwei ghanaische Mädchen im mecklenburgischen Grevesmühlen – und jetzt die AfD-Wahlerfolge. All das führt dazu, dass Merhawis alte Ängste zurückkehren. Es weicht die Gewissheit, dass sich die Geschichte des Nationalsozialismus nicht wiederholen wird. Er fühle sich plötzlich deutlich unsicherer, sagt Merhawi. "Ich spüre es."

Laut einer Studie der Universität Princeton zu Hasskriminalität gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem Erstarken der AfD und einem erhöhten Gewaltpotenzial gegen Flüchtlinge. Demnach befürwortet fast die Hälfte der AfD-Wähler Fremdenfeindlichkeit gegenüber Flüchtlingen, auch wenn diese in Gewalt umschlägt.

Merhawi bestätigt, dass er trotz seiner vorbildlichen Eingliederung im Alltag immer wieder mit Diskriminierung konfrontiert werde, wenngleich dies weniger brachial geschehe, eher in Form von abwertenden Sprüchen und Blicken. Er habe gelernt, damit umzugehen. "Ich bin schließlich erwachsen", sagt er.

Was ihm allerdings schon Sorgen bereitet, ist die Frage: "Haben wir Ausländer überhaupt eine Zukunft hier?"

Merhawi kann sich nicht vorstellen, dass Flüchtlinge heute noch so freundlich aufgenommen werden wie er damals. Eine Studie des Instituts Verian untermauert diese Vermutung, sie attestiert den Deutschen eine abkühlende Willkommenkultur. Während 2021 nur 36 Prozent der 2.000 Befragten der Auffassung waren, Deutschland solle keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen, sind es inzwischen 60 Prozent.

Nadine und Merhawi: Was bedeutet Heimat?

"Ich bin es gewohnt, immer im Ausnahmezustand zu leben, damals in Syrien und jetzt in Deutschland", sagt Nadine. Angst hat sie trotzdem, genau wie Merhawi.

Beide haben das Gefühl, von immer mehr Menschen abgelehnt zu werden. Und wissen nicht so recht, wo und wie das für sie endet. Dreht die Stimmung wieder? Oder wird es irgendwann einfach zu gefährlich?

Nadine und Merhawi waren eigentlich schon angekommen in Deutschland. Nun könnte es sein, dass selbst die, die längst integriert sind, ihre neue Heimat plötzlich wieder infrage stellen.

Verwendete Quellen

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