- In Teilen der CDU und der Wirtschaft werden Stimmen nach einer Zukunft der Atomkraft laut.
- Grund sind Sorgen um Energiesicherheit und Klimaschutz, wenn Deutschland bald auch aus der Kohleverstromung aussteigt.
- Die Vorsitzende des Umweltausschusses des Bundestags, Sylvia Kotting-Uhl, warnt vor einer Laufzeitverlängerung: Sie sei teuer, aufwendig und bremse den Ausbau Erneuerbarer Energien.
Der 31. Dezember 2022 wird für Deutschland ein historischer Tag sein: Ende kommenden Jahres endet die Betriebserlaubnis der letzten Atomreaktoren. Mehr als zehn Jahre nach dem Ausstiegsbeschluss wäre die Kernkraft in Deutschland Geschichte. Oder kommt es doch noch zu einer weiteren Wendung auf den letzten Metern?
Die Kernenergie ist jedenfalls wieder Gesprächsthema. Aktuelles Beispiel ist eine Äußerung des CDU-Vorsitzenden
Gesamtmetall will Rückkehr zur Kernkraft
Ähnlich äußerte sich – nicht zum ersten Mal – Sachsens Ministerpräsident
Aktuell sind noch sechs Meiler am Netz, doch das Ende steht unmittelbar bevor: Dem Bundesumweltministerium zufolge laufen die Betriebsberechtigungen für die Reaktoren Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C Ende dieses Jahres aus. Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 sollen Ende 2022 vom Netz gehen.
Die sechs Reaktoren haben derzeit einen Anteil von rund 11 Prozent an der Stromversorgung. Kann man es sich leisten, auf diesen Anteil zu verzichten? Die Energiesicherheit ist jedenfalls ein zentrales Argument für eine Verlängerung ihrer Laufzeiten.
Der Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, Stefan Wolf, plädierte in einem Interview mit der Bild-Zeitung für eine Rückkehr zur Atomenergie: "Denn wir haben in den kommenden Jahren nicht zuletzt wegen der steigenden Elektromobilität einen steigenden Strombedarf, gleichzeitig steigen wir aus der Kohle aus und kommen mit dem Bau von Windkraftanlagen nicht hinterher."
Zweifel an der Umsetzbarkeit
In der Politik dagegen überwiegen die Stimmen, die am Ausstieg festhalten wollen. Sylvia Kotting-Uhl ist Vorsitzende des Umweltausschusses des Bundestags in der endenden Legislaturperiode. Sie hält den gemeinsamen Ausstieg aus Kohle- und Atomenergie für machbar. Er sei sogar nötig, um den Anteil der Erneuerbaren Energien auszubauen.
"In Schleswig-Holstein muss man heute schon Windstrom praktisch wegwerfen, weil die Netze voll sind mit der Grundlast", sagt die Grünen-Politikerin im Gespräch mit unserer Redaktion. "Wir brauchen Speichertechnologie, wir brauchen die richtigen Netze und keine Grundlast-Kraftwerke. Man kann die Kohlekraftwerke vorgezogen abschalten, wenn man sich endlich an einen Ausbau der Erneuerbaren macht. Aber man muss da beherzt rangehen."
Dass Armin Laschet die Kernkraft wieder ins Gespräch gebracht hat, findet Kotting-Uhl "leichtfertig": "Falls er damit eine Laufzeitverlängerung vorschlagen wollte: Die wäre sehr aufwendig und sehr teuer", sagt sie. "In Neckarwestheim in Baden-Württemberg zum Beispiel ist der Rückbau bereits beantragt. Dort sind keine Brennelemente mehr bestellt. Man kann so etwas nicht dauernd hin- und herschalten."
Lindner: "Keine Schlachten der Vergangenheit"
Auch der FDP-Vorsitzende
Und die Union? Auch die umweltpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion, Marie-Luise Dött, will am Ausstieg nicht rütteln. Letztlich sei das eine Debatte um Vergangenes, erklärt sie gegenüber unserer Redaktion: "Unsere Gesellschaft hat sich für den endgültigen Ausstieg aus der Kernenergie entschlossen und dabei wird es auch bleiben. Die Union steht für eine berechenbare Politik, der man vertrauen kann und die Planungssicherheit garantiert."
76 Prozent der Deutschen stehen hinter dem Ausstieg
Zur Erinnerung: In Deutschland hatte die damalige Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP 2011 den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Etwas mehr als ein halbes Jahr zuvor hatte Schwarz-Gelb die Laufzeiten noch verlängert und den rot-grünen Atomausstieg damit zurückgenommen.
Die Bilder von der Nuklear-Katastrophe im japanischen Fukushima bewegten die Merkel-Regierung aber zu einem Umschwenken. Am 30. Juni 2011 besiegelte der Bundestag mit einer sehr deutlichen Mehrheit von 513 der 600 Abgeordneten das Ende der Kernenergie in Deutschland.
Die Entscheidung beruhte auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens – und der besteht auch heute noch: Eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung ergab in diesem Sommer, dass 76,2 Prozent der Bevölkerung den Atomausstieg befürworten.
Atomkraft für den Klimaschutz?
Ein kontroverses Thema ist die Kernenergie unter Klimaschützern. Der Verein Nuklearia zum Beispiel ruft immer wieder zu Demonstrationen für Laufzeitverlängerungen auf. Er bezeichnet Kernkraftwerke als "Klimaschutz-Pakete" und rechnet vor, dass ein Weiterbetrieb der sechs Kraftwerke pro Jahr 70 Millionen Tonnen CO2 einsparen würde. "Um dieselbe Menge mit Erneuerbaren einzusparen, bräuchte man 6000 Windräder und eine Million Solardächer", heißt es auf der Homepage des Vereins.
Unter deutschen Klimaschützern sind solche Stimmen eine Randerscheinung. Der Weltklimarat IPCC allerdings sieht in der Atomkraft eine "Minderungstechnologie", die nötig sei für den Weg zu einer Energieversorgung ohne fossile Brennstoffe. Auch Klimaschutz-Ikone Greta Thunberg hatte 2019 bei Facebook geschrieben, die Atomkraft könne ein "kleiner Teil einer großen CO2-freien Lösung" sein. Dafür erntete sie in ihrer Anhängerschaft zum Teil deutlichen Widerspruch.
Letztlich ist es eine Abwägungsentscheidung, die Deutschland eigentlich bereits getroffen hat: Dem potenzielle Nutzen für den Klimaschutz stehen die potenziell großen Risiken der Energieform gegenüber. Vor allem die Frage, wo 17.000 Tonnen abgebrannter Brennelemente endgelagert werden, ist bis heute nicht gelöst. "Ich bezweifle, dass diejenigen, die neue Atomkraftwerke fordern, damit einverstanden wären, dass das Endlager für den Müll vor ihrer Haustür gebaut wird", sagte der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck im Gespräch mit unserer Redaktion.
Viele neue Meiler im Ausland
International ist der deutsche Ausstiegsweg allerdings eher die Ausnahme als die Regel: Die Internationale Atomenergie-Behörde IAEA glaubt, dass sich die weltweite nukleare Produktionskapazität bis zum Jahr 2050 verdoppeln könnte. Vor allem in China, Russland und Indien sind neue Meiler in Planung, aber auch in Großbritannien und Finnland. In Finnland sind sogar die Grünen an der Regierung beteiligt. In Italien und den Niederlanden ist mehr Atomkraft ebenfalls in der Diskussion.
Auch Sylvia Kotting-Uhl nimmt die internationale Politik in den Blick. Für sie folgt daraus aber, dass es beim deutschen Nein zur Atomenergie bleiben muss. "Wir haben als Deutschland ein Interesse daran, dass andere Länder sich von der Atomkraft und der Kohlekraft verabschieden", sagt die Grünen-Politikerin. "Wenn wir jetzt aber zum zweiten Mal eine Kehrtwende machen würden, dann macht kein Land den Atomausstieg mehr nach. Dann wäre nämlich die Botschaft: Das funktioniert nicht."
Quellen:
- Gespräch mit Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis90/Die Grünen
- Gespräch mit Marie-Luise Dött, CDU
- Gespräch mit Christian Linder, FDP
- BILD.de: Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf "Rot-Grün-Rot wäre eine Katastrophe"
- Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung: Der Atomausstieg in Deutschland
- Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Kernkraftwerke in Deutschland
- The Intergovernmental Panel on Climate Change: AR5 Synthesis Report: Climate Change 2014
- Öko-Institut Freiburg: Rückbau und Stilllegung von Atomkraftwerken
- Wochenkurier.info: Ministerpräsident Kretschmer zu Besuch im Landkreis Bautzen
- Facebook-Seite von Greta Thunberg
- Homepage von "Critical Climate Action"
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