800.000 Flüchtlinge sollen laut Schätzungen allein in diesem Jahr in Deutschland ankommen, aber ohne Schleuser würden es die meisten nicht schaffen. In der EU gelten die Menschenschmuggler als Kriminelle, für die Flüchtlinge sind sie oft Helden und Lebensretter – das entspricht auch ihrem Selbstbild.
Es braucht nur ein paar Mausbewegungen und einige Klicks, schon ist der Traum von Europa ganz nah. Das soziale Netzwerk Facebook ist längst auch für Schleuser zu einer wichtigen Kontaktbörse geworden: Die Gruppen tragen Namen wie "Fahrten von Mersin nach Italien" – und verheißen den Flüchtlingen eine sichere Überfahrt übers Meer. Auch der Landweg über die Türkei, Griechenland und die Balkanstaaten kann auf diese Weise gebucht werden. Dort kann man sich anmelden, Kontakt aufnehmen und Fragen stellen. Wie groß ist das Schiff? Gibt es Wasser und Brot? Und: Wie viel kostet eine Fahrt? Der Menschenschmuggel ist ein äußerst lukratives Geschäft: Allein die Überfahrt von Mersin, dem türkischen Hafen am Mittelmeer, nach Italien kostet bis zu 5.000 Euro – und ist nur ein kleines Teilstück einer langen Fluchtodyssee.
Arbeitsteilung und straffe Hierarchien
Die Arbeit der Schleuser beginnt schon in den Heimatländern der Flüchtlinge: Syrien, Irak, Somalia oder Eritrea. Oft ist im lokalen Umfeld bekannt, an wen man sich wenden muss. Falls nicht, sind Freunde und Bekannte, die es ins Ausland geschafft haben, eine wichtige Informationsquelle. Oder eben das Internet. Die Flüchtlinge werden an geheimen Treffpunkten gesammelt, werden auf Lkw-Ladeflächen wie Vieh zusammengepfercht und müssen oft tagelang ohne Essen und Trinken auskommen. In Nordafrika wird von Wanderungen durch die Wüste berichtet. Wie viele Menschen dabei sterben, weiß niemand. Da die Flucht viele Etappen hat, kann es sein, dass Flüchtlinge Wochen oder Monate an einem Ort ausharren, wenn ihnen das Geld ausgegangen ist. Sie müssen dann arbeiten, um sich die Weiterreise zu verdienen.
Über ihre Schleuser ist so gut wie nichts bekannt. Die Ringe umfassen laut Experten meist 40-60 Personen, sie arbeiten arbeitsteilig und sind hierarchisch gegliedert. Die einen stellen den Erstkontakt zu den Flüchtlingen her, andere sorgen als Fahrer oder Kapitäne für den Transport, wieder andere sind für die Aufsicht zuständig. Schleuserbanden sind kleine Wirtschaftsunternehmen mit Millionenumsätzen. Die Köpfe, die im Hintergrund für die Organisation zuständig sind und das meiste Geld einkassieren, bleiben häufig völlig unerkannt. Werden doch einmal Mitglieder eines Rings verhaftet, handelt es sich meist um kleine Fische – wie im Fall der 71 toten Flüchtlinge auf einer österreichischen Autobahn. Ein Grund: Die Schleuser wissen aus Sicherheitsgründen fast nichts voneinander. So können sie sich auch gegenseitig nicht verraten.
Schleuser: "Wir verkaufen Träume"
Es scheint ein Vorurteil zu sein, dass alle Schleuser ungebildete, unsympathische Gestalten sind. Tatsächlich gibt es auch Akademiker, die sich aus Mangel an Jobperspektiven notgedrungen für diese Tätigkeit entscheiden.
Der italienische Kriminologe Andrea di Nicola, der mit zahlreichen Menschenschmugglern gesprochen hat, bezeichnet sie gegenüber "RP Online" als "auf gewisse Art ziemlich einnehmend". Sie seien offen und könnten mit Leuten sehr gut umgehen. Den Chef eines ägyptischen Schleusernetzwerkes beschrieb er als "sehr gebildet und sehr gut über die politische Lage in Europa informiert". Zudem habe der Mann mehrere Sprachen gesprochen. Eine Notwendigkeit, da die Banden länderübergreifend agieren.
Die Motive der Schleuser unterscheiden sich stark: Manche wittern nur skrupellos ein gutes Geschäft und gehen über Leichen. Vor allem im Bürgerkriegsland Libyen sollen die Schleuser sehr brutal und rücksichtslos agieren – besonders gegen Schwarzafrikaner. Andere wollen dagegen beides: den Menschen helfen und Profit machen. Der Tod von Flüchtlingen werde nicht generell in Kauf genommen, weil das den eigenen Ruf schädige und schlecht fürs Geschäft sei, sagt di Nicola. "Sie sehen sich als Wohltäter, manche sogar als eine Art Heilige. Sie sagen: 'Wir verkaufen Träume.'" Der Experte nennt die Schleuserbanden aber auch die "größte kriminelle Reiseagentur der Welt."
Dankbarkeit der Flüchtlinge
Während sie in der EU als Verbrecher gelten, sehen die Hilfesuchenden in ihnen Menschen, die ihre Sorgen ernst nehmen und handeln – viele empfinden Dankbarkeit. Die gebürtige Syrerin Maya Alkhechen, die selbst nach Deutschland geschmuggelt wurde, sagte kürzlich in der ARD-Sendung "Günther Jauch": "Die Schleuser sind momentan die einzige Möglichkeit, überhaupt aus gewissen Ländern gerettet werden zu können. Leider ist es so: Das, was die machen, ist illegal. Aber immerhin versuchen sie dabei auch, Menschen zu helfen."
Als Schleuser braucht man keine große Ausrüstung: ein Handy mit Prepaid-Karte, ein Konto auf dem Internettelefondienst Viber, das ist eine Art WhatsApp im arabischen Raum, eine Facebook-Seite zur Werbung und ein Konto, um zu kassieren. Die Bosse, die im Hintergrund die Fäden ziehen, wissen über die Lage in Europa bestens Bescheid, um ihre Routen jederzeit anpassen zu können. Sie sitzen in Istanbul, der libyschen Hauptstadt Tripolis oder in Karthum, der Hauptstadt des Sudan.
Während in den letzten Jahren die Route von Libyen übers Mittelmeer am bedeutendsten war, ist mittlerweile die Türkei "als Auffangbecken und Durchgangsland" wieder wichtiger geworden, sagte Experte di Nicola der "Rheinischen Post". Genau wie der Landweg über die Balkanländer. Darüber, wie sich die Schleusernetzwerke in der Türkei und auf dem Balkan zu den afrikanischen unterscheiden, ist wenig bekannt. Hier wie dort gibt es Menschen, die Tote in Kauf nehmen, hier wie dort gibt es jene, die den Flüchtlingen tatsächlich helfen wollen. Eines haben sie jedoch alle gemeinsam: Sie machen mit dem Schicksal hilfesuchender Menschen das Geschäfts ihres Lebens.
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