• Die Deutsche Bahn steht seit Jahren in der Kritik wegen Verspätungen und anderen Problemen.
  • Der Konzern ist privatwirtschaftlich organisiert, aber zu 100 Prozent im Staatsbesitz.
  • Der Bahnexperte Arno Luik sieht die Hauptverantwortung für die Lage der Bahn im Kanzleramt.
Ein Interview

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Parteiübergreifend besteht Einigkeit, dass es bei der Bahn katastrophal läuft. Wie sehen Sie die Lage?

Arno Luik: Die Schweizer, die wissen, wie man Züge fahren lässt, spotten über diese Deutsche Bahn AG – sie sei "deplorabel". Das ist noch freundlich ausgedrückt. Die Deutsche Bahn AG ist in einem fast irreparablen Zustand. Obwohl in sie, Jahr für Jahr, Geld ohne Ende hineinfließt, mindestens zehn Milliarden jährlich. Dass die Bahn, die mal perfekt funktioniert hat, heute so kläglich dahinrumpelt, ist ein riesiger Politskandal. Und der hat sehr viel mit Hartmut Mehdorn zu tun, der unter der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder als Bahnchef installiert wurde. Mehdorn fing an, massiv zu sparen, sehr viel Geld im Ausland zu investieren – eine verhängnisvolle Weichenstellung, die unter seinem Nachfolger Rüdiger Grube unglückseligerweise fortgesetzt wurde. Ob sich die Bahn vom Agieren dieses Bahnchefs jemals erholen kann? Ich bezweifle es.

Die Ampelparteien haben sich in ihrem Koalitionsvertrag Verbesserungen vorgenommen. Wie beurteilen Sie die Ziele?

Der Koalitionsvertrag ist in Sachen Bahn ein Witz, er umfasst nicht mal eine Seite. Wollten die Grünen nicht mal eine ökologische Verkehrspolitik? So jedenfalls nicht. In diesem Vertrag steht drin, was alle Politiker seit 50 Jahren lautstark fordern: mehr Güter und Personen auf die Schienen! Die Politik, die aber dann gemacht wird, ist de facto eine andere. Zwei Beispiele: Seit der Bahnprivatisierung 1994 wurden mehr als 100 Groß- und Mittelstädte vom Fernverkehr abgehängt, etwa Chemnitz, Heilbronn, Bremerhaven, Krefeld. Die Länge des Schienennetzes ging um mehr als 20 Prozent zurück. Sie müssen sich mal vorstellen, wie es auf deutschen Straßen heute aussehen würde, wenn das beim Straßenbau so gelaufen wäre. Sowohl SPD und Grüne als auch CDU, CSU und FDP haben eine Bahnpolitik betrieben, die unverantwortlich war und ist.

Welche Rolle spielt die Politik genau? Die Bahn ist privatwirtschaftlich organisiert, aber zu 100 Prozent im Staatsbesitz. Im Aufsichtsrat sitzen Bundestagsabgeordnete, der frühere Kanzleramtschef Ronald Pofalla war bis vor Kurzem im Vorstand.

Ich spreche von "Tätern" und die sitzen vor allem im Kanzleramt, da der jeweilige Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin für die Besetzung des Bahnchef-Postens verantwortlich war. Mit der Privatisierung 1994 hat sich die Politik offiziell zurückgezogen, die Bahn sich selbst überlassen – mit katastrophalen Folgen. Der sehr machtbewusste Hartmut Mehdorn beispielsweise konnte faktisch mit der Bahn machen, was er wollte. Als er Ende 1999 Bahnchef wurde, machte die Deutsche Bahn ihr Geschäfte zu mehr als 95 Prozent in Deutschland. Und das Geschäft hieß: Züge fahren lassen; heute macht die Deutsche Bahn gut 50 Prozent ihrer Umsätze im Ausland – häufig mit Dingen, die überhaupt nichts mit Zügen zu tun haben. Die Deutsche Bahn ist ein Staat im Staate geworden, und das ist das Grundproblem.

Es gibt immer wieder Kritik an den Auslandsaktivitäten der Bahn. Was hat es damit auf sich?

Die Deutsche Bahn AG ist keine Deutsche Bahn mehr, sondern ein weltumspannender Konzern, der in mehr als 140 Ländern aktiv ist. Für diese Auslandseinsätze wurde sehr viel Geld verpulvert – Investitionen, die sich nie amortisieren werden. Solange die Deutsche Bahn nur noch ein Anhängsel in diesem auf Steuerzahlerkosten geschaffenen Imperium ist, kann es hierzulande nichts werden mit ihr. Und noch ein Grund für die bedrückende Bahn-Malaise: Bis auf den aktuellen Bahnchef Richard Lutz kamen seine Vorgänger der letzten dreißig Jahre aus der Auto- oder Luftfahrtindustrie. Warum kommen solche Leute, die keine Ahnung von dem hochkomplexen System Bahn haben, also Bahn-Azubis sind, an die Spitze des Konzerns?

Welche grundlegenden Reformen bräuchte es aus Ihrer Sicht?

Die ganze Struktur, die damals gebaut wurde, um die Bahn an die Börse zu bringen, muss zerschlagen werden. Das sind acht verschiedene Gesellschaften, die nicht miteinander, sondern oft gegeneinander agieren. Diese Konstruktion ist ineffizient, sie ist, nur leicht polemisch formuliert: komplett durchgeknallt. Ein Bürokratiemonster. Und solange das so bleibt, kann es nicht besser werden. Unter Mehdorn und Grube wurde, wie gesagt, so viel gespart, dass das Schienennetz überlastet, ramponiert und die Infrastruktur im Grunde wie in der DDR heruntergewirtschaftet wurden. Um auf den guten Zustand etwa der Schweiz zu kommen, was für Deutschland als Industrienation und Hochtechnologiestandort das Minimum wäre­, müsste das Netz augenblicklich um 25.000 Kilometer verlängert werden. Das ist schlicht unmöglich. Die Bahn, die früher zu den größten Grundbesitzerinnen Deutschlands gehörte, hat in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren viel Land verkauft. Dort, wo früher Gleise waren, sind heute Logistikzentren, Wohnungen, Fabriken. Etwas zu zerschlagen ist einfach, aber etwas neu zu machen ist schwierig, kaum mehr möglich – gerade in diesem dicht besiedelten Land. Dazu kommt, dass immer noch strukturell falsch gedacht wird.

Inwiefern?

Es geht immer um die prestigeträchtigen ICE-Strecken und andere Großprojekte, die für absurd viel Geld gebaut werden – und dem Bahnverkehr kaum etwas nützen. Im Nah- und Regionalverkehr fahren viel mehr Menschen, doch da wird sträflich wenig getan.

Was sollte die Bundesregierung aus Ihrer Sicht konkret tun?

Sie könnte, nein, sie muss diese Auslandseinsätze der Bahn sofort beenden und sich von den ganzen Prestigebauten wie etwa Stuttgart 21 verabschieden. Außerdem müsste sie die komplette Führungsspitze gegen kompetente Leute austauschen. Und auch ein Bundesverkehrsminister sollte Ahnung von und Interesse an der Bahn haben – das wäre fast eine Revolution.

Sie haben die Schweiz als Vorbild erwähnt, was läuft dort besser?

Nahezu alles. Die Schweizer sind auf ihre Züge so stolz wie die Deutschen auf ihre Autos. Die Züge dort sind wie auch in Österreich sauber, und pünktlich, sie fahren im Taktverkehr. Man könnte also von diesen Ländern lernen. Aber man will nicht. Für mich stellt sich die Frage: Warum hat man im Autoland Deutschland jahrzehntelang Automanager, also Konkurrenten zur Bahn, an die Bahnspitze gebracht? Und nie einen Profi aus der Schweiz, der wirklich weiß, wie man Züge fahren lässt.

Über den Experten: Arno Luik war unter anderem Chefredakteur der "taz", stellvertretender Chef der "Abendzeitung" in München und schrieb viele Jahre für den "Stern". 2021 erschien eine aktualisierte Taschenbuchausgabe seines Werks "Schaden in der Oberleitung. Das geplante Desaster der Deutschen Bahn" im Westend Verlag.
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