Über Inklusion und Diversität wird viel diskutiert und wie man möglichst alle Menschen miteinbezieht und gleich behandelt. Schaut man sich die Praxis an, passiert viel zu wenig, sagt der Behinderten-Beauftragte der Bundesregierung Jürgen Dusel im Interview mit unserer Redaktion. Auch beklagt er Missstände in Arztpraxen und in der Arbeitswelt, unter denen Menschen mit Beeinträchtigungen leiden.
Herr Dusel, wie steht es aktuell um die Teilhabe von behinderten Menschen in Deutschland?
Jürgen Dusel: Da gibt es große Unterschiede, weil die Gruppe sehr heterogen ist. Wir haben in der Bundesrepublik 13,5 Millionen Menschen mit einer Beeinträchtigung. Oftmals werden aber nur die gut acht Millionen schwerbehinderten Menschen gesehen. Nur drei Prozent werden mit einer Beeinträchtigung geboren – der Rest erhält die Behinderung im Laufe des Lebens. Alle eint, dass die Teilhabe und die Inklusion noch nicht vollzogen ist, obwohl es auf letzteres einen rechtlichen Anspruch gibt. Wir haben ein paar Schritte in die richtige Richtung gemacht. Aber von einer inklusiven Gesellschaft sind wir noch weit entfernt.
Wie sichtbar sind behinderte Menschen in der Gesellschaft?
Menschen mit Behinderungen kommen in der Debatte um Diversity, also Vielfalt, nicht ausreichend vor. Wir reden zu Recht über das Thema Gender- und Geschlechtergerechtigkeit sowie über Anti-Rassismus – aber nicht über Behinderung. Auch Menschen mit Behinderung gehören zu einer vielfältigen Gesellschaft. Dieser Blickwinkel fehlt häufig im politischen und gesellschaftlichen Diskurs. Das schlägt sich auch auf den Arbeitsmarkt und auf viele andere Bereiche nieder. In Deutschland stecken wir Menschen in Schubladen, sodass die meisten Menschen mit Beeinträchtigung in Sondersysteme gedrängt werden. Dazu kommt, dass diese kaum Kontakte mit Menschen ohne Behinderung haben. So findet kein Dialog, kein Lernen statt.
So entstehen Vorurteile. Einige Arbeitgeber meinen etwa, dass Menschen mit Behinderung nicht so belastbar und leistungsfähig seien. Das ist Unfug. Es braucht einfach viel mehr Begegnungen und gemeinsames Lernen. Denn wenn schon Kinder sehen, dass das Kind im Rollstuhl super gut Mathe und ich mit ihm befreundet sein kann, prägt das fürs Leben. Man sollte weniger auf die Defizite schauen und mehr auf die Ressourcen und Fähigkeiten der Menschen.
Jürgen Dusel: "Unsere Gesellschaft schaut meistens nur auf die Defizite"
Beeinträchtigung und Behinderung werden immer noch mit Erkrankungen oder Schutzbedürftigkeit in Verbindung gebracht. Warum ist das so?
Über lange Jahre war der Begriff der Behinderung stark medizinisch geprägt. Was funktioniert nicht, was ist kaputt, wie kann man heilen? Danach haben Ärztinnen und Ärzte geschaut. Ebenso wurden Behinderungen sozial definiert: zwischen der Beeinträchtigung der Person mit den Wechselwirkungen der Barriere in der Umwelt. Unsere Gesellschaft schaut meistens nur auf die Defizite, als müssten Menschen mit Behinderung besonders geschützt werden. Das zeigen die Begriffe "Schutz- und Schonräume". Obwohl sie dies gerade nicht tun, da gerade Menschen mit Beeinträchtigungen viel Gewalt erfahren, die nicht öffentlich wird.
Mit all den dazugehörigen Rechten sind Menschen mit Behinderung Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Das darf nicht nur auf dem Papier stehen. Der Staat muss dafür sorgen, dass die Rechte eingehalten werden. Auf der anderen Seite braucht es für bestimmte Menschen mit Behinderung mehr Ermächtigung, indem sie ihre Stimme erheben. Erfreulicherweise gibt es tolle Aktivisten, die sich einbringen. Es braucht aber viel mehr davon, etwa in Kreis-, Landtagen und im Bundestag.
"Ein Großteil der Arbeitgeber zahlt lieber die Ausgleichsabgabe"
Dieses Jahr soll die vierte Stufe der Ausgleichsabgabe eingeführt werden. Was hat es damit auf sich?
Unternehmen mit mindestens 20 Arbeitsplätzen haben auf mindestens 5 Prozent der Arbeitsplätze schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Ein Großteil der circa 160.000 beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber in Deutschland hält sich nicht an diese Regel und zahlt lieber die Ausgleichsabgabe – das ist allen klar und nicht schön. Ein Viertel aller Unternehmen stellt nicht mal eine einzige Person mit Schwerbehinderung ein. Für null Prozent habe ich null Verständnis, gerade weil die Gruppe der schwerbehinderten arbeitslosen Menschen deutlich besser qualifiziert ist als die Gruppe Arbeitsloser ohne Behinderung. Angesichts des flächendeckenden Fachkräftemangels ist das umso bedenklicher.
Und dagegen will der Staat nun vorgehen?
Seit drei Jahren fordere ich, dass für diejenigen, die keinen einzigen Menschen mit Behinderungen einstellen, die Ausgleichsabgabe verdoppelt wird. Eine Firma ab 60 Beschäftigten müsste so 720 Euro monatlich pro nicht-besetztem Arbeitsplatz zahlen statt 360 Euro. Das hat der Bundestag zum Glück jetzt auch beschlossen und der Bundesrat hat dem Gesetz mittlerweile auch zugestimmt. Die Verdoppelung der Ausgleichsabgabe ist ein Schritt in die richtige Richtung.
"Die allermeisten deutschen Arztpraxen sind nicht barrierefrei"
Wenn Sie durch die Stadt laufen – wo fehlt es überall an Barrierefreiheit?
Das kommt darauf an, ob es eine Klein- oder Großstadt ist. Viele Rollstuhlfahrer haben zum Beispiel Probleme, barrierefrei von A nach B zu kommen. Gerade im ÖPNV oder im Zug gibt es noch viele Hindernisse wie Stufen und Höhenunterschiede. Genauso ist die Arztwahl für viele Menschen mit Beeinträchtigung ein Problem: Die allermeisten deutschen Arztpraxen sind nicht barrierefrei – das ist ein Armutszeugnis. Dabei zahlen sie genauso ihre Krankenkassenbeiträge, wie alle anderen auch. Für die gynäkologische Versorgung von Frauen im Rollstuhl gibt es weniger als fünf Frauenärzte, die wirklich barrierefrei sind. Das ist katastrophal.
Arztpraxen, Kinos, Hotels – alle müssen zur Barrierefreiheit verpflichtet werden. Das hat sich auch die Regierungskoalition vorgenommen, indem dies mehr private Anbieter von Produkten und Dienstleistungen tun sollen.
Auch das Thema Schule und Beeinträchtigung ist problematisch. Dazu sagte der Aktivist Raul Krauthausen: "Aus Sonderschulen kommt man behinderter raus als rein." Was ist das Problem mit den Sonderschulen?
Sonderschulen sind kein Erfolgsmodell. Dreiviertel der Förderschüler verlassen ihre Schule ohne Abschluss. Dazu werden viele mit dem Förderschwerpunkt "Geistige Entwicklung" stigmatisiert – und haben deswegen bei der Arbeitsplatzsuche große Probleme. Natürlich gibt es auch Erfolge, wie etwa die verbesserten Berufsaussichten für sehbehinderte Kinder – verglichen mit der Zeit vor 50 Jahren. Für die Zukunft trägt das Förderschulsystem aber nicht mehr. Wir erkaufen die wenigen Erfolge mit einer Separierung der gesamten Gruppe. Das ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht gut.
Müssten inklusive Schulen mehr ausgebaut werden?
Ein Kind mit Förderbedarf bekommt das, was es benötigt – das ist das Wichtigste. Kinder mit und ohne Beeinträchtigung gemeinsam in eine Klasse zu setzen, ohne weiteres Zutun, ist Konfusion und keine Inklusion. Wird genügend unterstützt, ist das ein guter Weg.
Haben Sie persönliche Erfahrungen damit?
Ich bin nahezu blind und war zuerst auf einer Schule für sehbehinderte Kinder und später auf einem Gymnasium. Das war nicht immer einfach. Inklusive Bildung ist nicht nur nett. Deutschland hat sich erstens nach Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet. Und zum zweiten bringt gemeinsames Lernen für alle etwas, von Kindesbeinen an.
Behinderten-Werkstätten werden ebenso kontrovers diskutiert. Kritisiert wird, dass Menschen mit Beeinträchtigung dorthin gesetzt werden, ohne aus dem System wieder rauszukommen.
Ich sehe das differenziert. "Nichts über uns ohne uns" ist dabei das Motto. Wenn wir das ernst meinen, müssen wir auch mit Leuten aus Behinderten-Werkstätten sprechen – und nicht über ihre Köpfe hinweg. So sieht auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstatt-Räte, dass sich was ändern muss. Neben einer besseren Bezahlung ist es ihnen wichtig, dass die Werkstätten nicht nur zum Arbeiten da sind, sondern auch ein Ort der Interaktion, wo auch Freundschaften geschlossen werden.
"Ich setze mich für den Mindestlohn in Behinderten-Werkstätten ein"
Mit 220 Euro im Monat ist dort der Lohn sehr niedrig.
Ich setze mich für den Mindestlohn in Behinderten-Werkstätten ein. Und dass die Menschen dort trotzdem ihre Privilegien, ihre Leistungen – wie Erwerbsminderungsrente, Grundsicherung und Rentenansprüche – behalten dürfen. Wovon wir uns aber verabschieden müssen, ist die Idee, dass Menschen über die Werkstätten in den ersten Arbeitsmarkt kommen. Nur 0,3 Prozent schaffen das – von 300.000 Werkstätten-Arbeitern insgesamt. Das Konzept ist gescheitert. Auf der anderen Seite gibt es 1,4 Millionen sozialpflichtige Beschäftigte mit Schwerbehinderung. Das darf man auch nicht vergessen.
Sollte man das Werkstätten-Konzept verbessern oder abschaffen?
Die Werkstätten sollen drei Dinge leisten, die sie nicht leisten können. Sie sollen die Leute rehabilitieren, Übergange auf den normalen Arbeitsmarkt schaffen und wirtschaftlich sein. Damit beißt sich die Katze in den Schwanz, denn wenn ich besonders rentabel sein will, versuche ich nur wenige Übergänge zu haben. Habe ich viele Übergänge, arbeite ich wahrscheinlich nicht sehr wirtschaftlich. Deswegen braucht es Veränderungen, mehr Teilhabe. Abschaffen will ich die Werkstätten nicht. Allerdings ist das ein dickes Brett, da die Strukturen über Jahrzehnte gewachsen sind.
Anfangs sprachen wir über die Unsichtbarkeit: Wie sieht es bei der Gesundheit von Menschen mit Behinderung aus? Hierzu gibt es nur wenige Zahlen.
Das stimmt. Der Teilhabe-Bericht der Bundesregierung beschreibt das subjektive Empfinden und die objektive Situation. Viele Menschen mit Beeinträchtigung fühlen sich weder gesund noch sind sie es. Am Beispiel der nicht-barrierefreien Arztpraxen sieht man: Wir haben ein Qualitätsproblem im Gesundheitswesen. Für Schwer- und Mehrfachbehinderte fehlen Spezialeinrichtungen. In Schleswig-Holstein gibt es beispielsweise kein einziges. Die Hilfsmittelversorgung von Kindern und Jugendlichen mit Schwerbehinderungen dauert viel zu lange.
Was sagt der Gesundheitsminister dazu?
Karl Lauterbach hat zugesichert, dass sich das ändert. Zurzeit wird ein Hilfsmittel vom Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) verordnet, das prüft dann die Krankenkasse. Diese beauftragt den Medizinischen Dienst – und dieser lehnt das Hilfsmittel oftmals ab. Ich will, dass die SPZ-Verordnungen mehr bewilligt werden. Wie gesagt, Menschen mit Beeinträchtigungen zahlen ganz normal in die Krankenkassen ein. Wir brauchen ein inklusives, diverses Gesundheitssystem.
Opfer von Gewalt – Frauen mit Behinderung haben dreifach erhöhtes Risiko
Welche Tabuthemen betreffen Menschen mit Behinderung?
Sexualität wäre eins. Oft steht die Frage dahinter: Können Menschen mit Beeinträchtigung Sex haben? Ja, natürlich. Gewalt ist auch ein Tabu: Frauen mit Behinderung haben ein dreifach erhöhtes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden, oftmals sexualisierte Gewalt. Das passiert nicht nur in Behinderten-Einrichtungen, sondern auch im öffentlichen Raum. Dazu kommt, dass die Wörter "behindert" oder "Behinderter" oft noch als Schimpfwort benutzt werden. Gerade auf Schulhöfen fliegen solche Worte herum. Schrecklich.
Was können wir als Gesellschaft dagegen tun?
Es braucht mehr Aufklärung und mehr Sichtbarkeit. Menschen mit Behinderungen haben genau die gleichen Wünsche, Bedürfnisse und Erwartungen wie Menschen ohne Behinderung – das muss immer wieder klargemacht werden. Die Sprache formt unser Denken und dann unser Handeln. In den Medien lese ich immer wieder, dass jemand "an den Rollstuhl gefesselt"ist. Oder über Blinde, die in "totaler Dunkelheit" leben. Das ist Quatsch und Behinderung wird so nur negativ konnotiert.
Dusel hat auch ukrainische Geflüchtete mit Behinderung im Blick
Sie sind seit 2018 im Amt. Mit welchen Projekten und Gesetzen wollen Sie für mehr Gleichberechtigung sorgen?
Ich setze mich für mehr mehr Barrierefreiheit beim Wohnen, im Gesundheitssystem und bei der Mobilität ein. Ein echtes Herzensthema ist mir außerdem, die Situation von Familien mit schwerstbehinderten Kindern zu verbessern. Mehr Teilhabe am Arbeitsleben und Gewaltschutz sind weitere Themen. Neu dazugekommen ist die Situation von Menschen mit Behinderung, die aus der Ukraine wegen des Kriegs geflüchtet sind. In diesem Jahr, in dem die Special Olympics World Games in Berlin stattfinden, lege ich einen besonderen Fokus auf Menschen mit Lernbeeinträchtigungen. Ende des Jahres werde ich der Regierung konkrete Teilhabe-Empfehlungen zu diesem Schwerpunkt überreichen.
Wo läuft es gerade schon gut, welche gesellschaftlichen Bereiche sind am inklusivsten?
Auf dem Arbeitsmarkt stehen wir mit den 1,3 Millionen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten mit Beeinträchtigung international gar nicht so schlecht da. Bei der Kommunikation mit Behörden gibt es ebenfalls Fortschritte. Im Privaten gibt es dagegen am meisten Nachholbedarf, weil zum Beispiel die meisten Internetseiten nicht barrierefrei sind. Menschen mit einer Sehbehinderung können Texte oder Formularfelder schlecht erkennen, wenn sie sich nur gering vom Hintergrund abheben. Gehörlose und schwerhörige Menschen können Videos nicht nutzen, wenn sie keine Untertitel enthalten.
Behinderte Menschen als Nachrichtensprecherin, Handwerker, Bürgermeisterin und Lehrer – wann wird das normal sein?
Inklusion kann man nicht verordnen. Von daher wird es noch dauern. Vieles geht in die richtige Richtung. Aber: Es geht nicht um etwas Karitatives oder Nettes, sondern um die Umsetzung von Grundrechten.
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