Vor der Fraktionstür tut Horst Seehofer noch so, als könne die Union nach den jüngsten Schreckenswochen so weitermachen wie bisher. "Des is scho' wieder Geschichte", versucht der CSU-Chef auf die Frage zu beschwichtigen, ob seine Rücktrittsdrohung ein Fehler gewesen sei oder ob gerade sie den Durchbruch beim Migrationsstreit mit der CDU gebracht habe. Und gibt sich maximal pragmatisch: "Wissen Sie, was wichtig ist? Immer das Ergebnis."

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Als eine Reporterin noch wissen will, ob er atmosphärisch wieder zum Normalzustand mit der Kanzlerin übergehen könne, winkt der Innenminister ab: "Ach... Machen Sie sich keine Sorgen."

Wer dann die Szene beobachtet, als die Kanzlerin ihren Innenminister im Fraktionssaal mit hochgezogenen Augenbrauen begrüßt und sich mit versteinert ernster Miene geschäftsmäßig neben Seehofer setzt, könnte man fast denken, da bereite sich ein hoffnungslos verkrachtes Ehepaar auf das Gespräch mit dem Scheidungsrichter vor. Kein Lächeln, keine Zugewandtheit - mehr Distanz lässt sich kaum demonstrieren.

Immer wieder Zoff seit 2015

Immer wieder hat es in den vergangenen drei Jahren seit Beginn der Flüchtlingskrise 2015 schwer gekracht zwischen Seehofer und Merkel. Doch der aktuelle Migrationsstreit mit seinem Höhepunkt, der letztlich wieder zurückgenommenen Rücktrittsdrohung vom Sonntag, dürfte noch den letzten Rest an Wohlwollen und Zugeneigtheit zwischen den beiden Vorsitzenden hinweggefegt haben.

In der CDU heißt es, auf geradezu selbstzerstörerische Art hätten Seehofer und die CSU den Konflikt auf die Spitze getrieben, man habe tagelang in den Abgrund geschaut. In der CSU wiederum fragt man sich, warum Merkel bis zuletzt keinen Millimeter nachgegeben, auf keine Kompromissangebote reagiert habe.

Zwei Wochen lang sah es so aus, als könnte die vierte Regierung Merkels schon nach nur gut 100 Tagen platzen - und das wegen der eigenen Schwesterpartei. Doch ein Scheitern der Regierung angesichts der Krisen in der Welt und des anschwellenden Nationalismus in Europa wollten wohl nur wenige in der Unionsfraktion riskieren. Am Ende wollen die Abgeordneten wohl beider Seiten nur noch eines: Einen Kompromiss. Mit einem solchen Streit in die Sommerpause zu ziehen - das wäre für viele dann doch zu selbstmörderisch gewesen.

Vermutlich hat auch eine Mischung aus Hartnäckigkeit, Stolz und Sturheit Seehofers die Union an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Zwar ist der 68-Jährige schon lange für Drohungen und Ultimaten bekannt, erst recht für seine Kehrtwenden. Aber erst einen Rücktritt und dann einen Rücktritt vom Rücktritt innerhalb von 24 Stunden - das haben die Christsozialen so auch noch nicht erlebt. Entsprechend groß war das Beben, das Seehofer am Sonntagabend ausgelöst hatte. Nicht einmal der engste Führungszirkel wusste offenbar vorab davon.

Tiefe Gräben bleiben

Auch in der CSU herrscht die Auffassung, dass die Gründe für die jüngste Eskalation vor allem im Persönlichen zu suchen sind. Der Dauer-Streit Merkel/Seehofer hat tiefe, kaum mehr zu überbrückende Gräben hinterlassen. Andererseits ist die Katastrophe aus Sicht der CSU abgewendet: Seehofer bleibt, die CSU muss nicht eben mal einen neuen Chef und Innenminister suchen. Das wäre dreieinhalb Monate vor der bayerischen Landtagswahl eine weitere massive Belastung gewesen - wobei der Schaden nach Ansicht vieler schon jetzt enorm ist.

"Wir müssen jetzt gemeinsam zu Stabilität zurückfinden. Wir müssen den Eindruck von Ruhe und Verlässlichkeit ausstrahlen", betont Ministerpräsident Markus Söder, der am 14. Oktober die Wahl vor sich hat. Man müsse "jetzt endlich wieder mehr über Sachfragen reden". Auf die Frage, wie groß der Schaden für den Wahlkampf sei, antwortet er ausweichend: "Gut ist, dass es ein vernünftiges Ergebnis gibt. Wir können uns jetzt wieder auf Bayern konzentrieren."

In Berlin liegt der Ball am Tag eins nach der überraschenden Unionseinigung plötzlich bei der SPD im Feld, wo die Sorgen wachsen. Asylbewerber, die über Österreich einreisen und schon woanders registriert worden sind, sollen nach dem Willen der Union in sogenannte Transitzentren kommen - ähnlich wie ein Transitbereich am Flughafen, abgefangen im Grenzgebiet. Besonders gegen geschlossene, gefängnisähnliche Einrichtungen gibt es Widerstand in der SPD. Juso-Chef Kevin Kühnert macht klar: "Die SPD hat geschlossenen Lagern eine deutliche Absage erteilt. Egal ob in Nordafrika, an der europäischen Außengrenze oder in Passau."

Nahles spricht von Fortschritten

SPD-Chefin Andrea Nahles und Vizekanzler Olaf Scholz geben sich am Abend nach zweieinhalbstündigen Beratungen im Koalitionsausschuss über die Migrationspläne unerwartet optimistisch. Zwar sagt Scholz in die Kameras: "Mit einem politischen Bekenntnissatz ist es nicht getan." Zugleich zeigt er sich aber fest überzeugt, gemeinsam mit der Union zu guten, pragmatischen und gesetzlich ordentlichen Regelungen zu kommen. Nahles spricht von Fortschritten in der gesamten Themenbreite - an diesem Donnerstagabend sollen die Beratungen weitergehen. Offenbar will auch die SPD-Spitze rasch greifbare Ergebnisse präsentieren.

Rückblende: Als 2015 jeden Tag tausende die Grenze passierten, standen solche Transitzentren schon einmal zur Debatte. Der damalige Parteichef Sigmar Gabriel sprach von "Haftzonen", der damalige Justizminister und heutige Außenminister Heiko Maas sagte, wer Transitverfahren von Flughäfen auf Landesgrenzen übertragen wolle, schaffe "Massenlager im Niemandsland".

"Auf keinen Fall kannst Du da mitgehen", sagt heute ein einflussreicher Genosse. Aber die Koalition platzen lassen, Neuwahl? - "Das ganze Theater hier ist doch ein Konjunkturprogramm für die AfD." Der Redebedarf ist so groß, dass für Mittwochmorgen die zweite Sondersitzung der Bundestagsfraktion in dieser Woche angesetzt ist.

Am Dienstag bildet sich um Gabriel eine Traube an Journalisten, er setzt klare Botschaften für die SPD in diesen Tagen, rechnet mit der CSU ab, wirft Seehofer eine Erpressung Merkels vor, er müsse eigentlich zurücktreten. Ein Sozialdemokrat, der sich so verhalte, werde "geteert und gefedert" durchs Land getrieben. Gabriel will die Transitzonen aber nicht pauschal ablehnen. "Die Transitzonen 2015, da ging es pro Tag um drei-, vier-, fünftausend Flüchtlinge." Jetzt geht es um viel weniger Fälle - an der deutsch-österreichischen Grenze.

Was macht die SPD?

Die SPD hat nun die Situation, die sie vermeiden wollte: Eine über den Koalitionsvertrag hinausgehende Vereinbarung, die sie mittragen muss, wenn die Koalition diese Krise überleben soll. Nahles will den Begriff Transitzentren aus der Welt schaffen: "Wir lehnen den Begriff ab". Doch ob ein neues Wort reicht? Oder ist das Ganze ohnehin gar nicht umsetzbar, schon rechtlich?

Die Sozialdemokraten ziehen schon die rote Linie, dass es nach dem Unionskompromiss keine gefängnisartigen "geschlossenen Zentren" geben dürfe. Ob ihnen da die lapidare Entgegnung der Unionsseite zur Besänftigung ausreichen wird, die erklärt, es handele sich ja gar nicht um geschlossene Zentren? Denn immerhin könnten die Migranten ja jederzeit die sogenannten Transitzentren an der Grenze verlassen - aber eben nur in Richtung Österreich und nicht in Richtung Bundesrepublik.

Doch selbst wenn das politische Sommertheater mit der SPD ausbleibt - die Unionsfamilie dürfte bis zur bayerischen Landtagswahl immer wieder für Unterhaltung sorgen. Kaum jemand in der CDU glaubt, dass die CSU nun Ruhe gibt - zu tief sitzt bei Seehofer und in weiten Teilen der Christsozialen die Wut auf Merkel, deren Flüchtlingspolitik sie als wohl größte Gefahr für die Verteidigung der absoluten Mehrheit in Bayern sehen.

Wann ist bei Merkel die Grenze erreicht?

Doch auch bei Merkel dürfte die Geduld nicht unerschöpflich sein. Zumal die Kanzlerin Deutschland angesichts der internationalen Lage vor riesigen Herausforderungen sieht und statt auf nationale Alleingänge, wie von der CSU angepeilt, auf europäische Stärke setzt. Zwar sei die Kanzlerin im Umgang mit Seehofer & Co. "relativ schmerzfrei", heißt es bei Parteifreunden, die sie gut kennen. Sie mache um des lieben Friedens in der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU ja alles Mögliche mit. Aber auch bei der Kanzlerin gebe es Grenzen der Kompromissfähigkeit. Den europäischen Gedanken beispielsweise - den werde sie sicher nicht fahren lassen.  © dpa

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