Es ist ein plakativer Vorschlag, der da gerade aus Australien kommt: Europa könne seine Flüchtlingskrise entschärfen, indem es einfach den Islamischen Staat bombardiere, sagt Außenministerin Julie Bishop. Was ist dran an der Idee? Wir überprüfen die Aussage der Ministerin.
Während Europa mit den größten Flüchtlingsströmen dieses Jahrtausends kämpft, regiert in Syrien und dem Irak weiter das Chaos. Jüngst tauchten Hinweise auf, dass der selbsternannte Islamische Staat (IS) Chemiewaffen wie Senfgas einsetzt. Außerdem sprengte die Terrormiliz gerade innerhalb einer Woche schon den zweiten großen Tempel im syrischen Palmyra. Und seit dem Wochenende beteiligt sich nun auch die Türkei am Krieg gegen den IS und flog erstmals Angriffe in Syrien.
Angesichts solcher Meldungen werden immer wieder Stimmen laut, die ein militärisches Engagement europäischer Staaten gegen den IS fordern – nun etwa aus Australien, das zur internationalen Allianz gehört, die seit Monaten IS-Stellungen bombardiert. In einem Interview mit der Zeitung "The Australien" sagte Außenministerin Julie Bishop: "Die Europäer müssen bei der Koalition in Syrien und im Irak dabei sein." Bishops Begründung: Ein härteres Vorgehen würde auch die Flüchtlingsströme nach Europa begrenzen.
Mehr Bomben = weniger Flüchtlinge: Ist es wirklich so einfach, wie die Außenministerin sagt? Wir überprüfen ihre Logik und sehen uns die Flüchtlingszahlen einmal genauer an.
Islamischer Staat ist nur eine Ursache für Chaos im Nahen Osten
Thomas Birringer kann die australischen Einwände nachvollziehen, wie er im Gespräch mit unserem Portal erklärt. Birringer leitet das Team Naher Osten und Nordafrika bei der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) und sagt: "Wenn man ernsthaft über die Flüchtlingskrise diskutiert, sollte man auch über die außen- und sicherheitspolitische Dimension sprechen. Dazu gehört die Frage, was man militärisch tun kann, um Konflikte einzudämmen."
Dennoch bezweifelt er, dass mehr Luftangriffe tatsächlich zu weniger Flüchtlingen führen würden: "Den Flüchtlingsstrom aus Syrien gibt es nicht erst seit dem Islamischen Staat – der IS ist nur ein Element. Ein anderes wichtiges Element ist der Bürgerkrieg, den das Assad-Regime begonnen hat und der schon weitaus länger dauert." Auch Magdalena Kirchner von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) betont im Gespräch mit unsere Portal: "Mehr Militär im Kampf gegen IS bedeutet kaum weniger Flüchtlinge in Europa. Natürlich fliehen viele Menschen vor dem IS, zunächst im Inneren des Landes in die vermeintlich sicheren kurdischen und noch nicht vom IS eingenommene Städte. Die meisten Menschen fliehen aber vor dem Bürgerkrieg, in dem der IS nur eine Partei von vielen ist."
Acht Mal mehr Tote durch Assad als durch den IS
Tatsächlich zeigt sich hier der Denkfehler von Julie Bishop. Zur Erinnerung: Der IS rief sein Kalifat im Juni 2014 aus, der syrische Bürgerkrieg wütet bereits seit Anfang 2011. Zwar stellten 2014 in der EU rund 122.000 Menschen aus Syrien einen Asylantrag – also mehr als doppelt so viele wie 2013. Doch bereits 2013 lagen die Syrer mit Abstand auf Platz 1 der Herkunftsländer-Liste. Mehr als elf Prozent aller Anträge kamen damals von ihnen. Das bedeutet: Mit dem Vormarsch des islamistischen Terrors stieg zwar die Zahl der Flüchtlinge – aber die Dschihadisten standen nicht am Anfang der Entwicklung.
Selbst wenn der IS plötzlich vollständig verschwände, würden wohl nur wenige Menschen einfach wieder in ein Bürgerkriegsland zurückkehren. Die Menschenrechtsorganisation "Syrian Network For Human Rights" dokumentiert seit 2011 die Opfer des Konflikts. Demnach kamen zwischen Januar und Juli 2015 fast acht Mal mehr Menschen durch Regierungstruppen ums Leben als durch den Islamischen Staat: 8.000 Tote stehen etwa 1.100 gegenüber. "Viele Flüchtlinge in Europa kommen auch aus den westlichen Provinzen Syriens, wo Regime und gemäßigtere Rebellen mit großer Härte gegeneinander kämpfen", erklärt denn auch Kirchner. Da hier vor allem städtische Zentren wie Aleppo, Homs oder Damaskus liegen, schätzen einige Beobachter, dass noch immer mehr Menschen vor Präsident Baschar al-Assads Truppen fliehen als vor dem IS.
Nur jeder fünfte Asylantrag stammt von Syrern
Noch andere Zahlen stellen Bishops Aussagen infrage – insbesondere die Statistik des Bundesamts für Migration (BAMF) zu den Herkunftsländern von Flüchtlingen. Im ersten Halbjahr 2015 gingen insgesamt 195.723 Erstanträge auf Asyl in Deutschland beim BAMF ein.
Syrien macht 21,5 Prozent der Anträge aus, zusammen mit dem Irak sind es 26,9 Prozent. Der Kosovo und Albanien kommen hingegen auf jeweils rund 15 Prozent – gemeinsam beläuft sich ihr Anteil auf mehr als 30 Prozent. Rechnet man Serbien mit ein, erhält man sogar rund 36 Prozent. Diese Länder blieben von Angriffen auf den IS völlig unberührt. Genauso wie die Flüchtlinge aus Afghanistan oder Eritrea, die immerhin mit 5,2 Prozent und 2,5 Prozent beziffert sind.
Ähnlich sehen auch die Verhältnisse für die gesamte EU aus, wie das Statistische Amt der Europäischen Union (Eurostat) darlegt: Insgesamt stellten vergangenes Jahr 625.920 Menschen einen Asylantrag in Europa, davon entfielen 19,5 Prozent auf Syrer. Danach kamen Afghanistan (6,6 Prozent), Kosovo (6,1 Prozent) und Eritrea (5,9 Prozent). Der Irak notiert in dieser Statistik mit 3,1 Prozent auf Platz 7. Auch die europäischen Flüchtlingszahlen würde ein IS-Rückzug somit nur begrenzt beeinflussen.
Trotz Luftangriffe fliehen weiter Menschen
Experten zweifeln ohnehin daran, dass sich der Islamische Staat überhaupt allein mit Luftangriffe besiegen lässt. Auch Nahost-Forscher Birringer sagt: "Luftangriffe sind nicht das alleinige Heilmittel." Zugleich weist er darauf hin: "Zwischen Tatenlosigkeit auf der einen und der Entsendung von Truppen auf der anderen Seite gibt es eine Menge Zwischenschritte."
Mit Blick auf die Menschen in Syrien zieht DGAP-Wissenschaftlerin Kirchner allerdings ein eindeutiges Fazit zu Bomben aus der Luft: "Seit dem Beginn der Luftangriffe durch die Allianz hat die Zahl der Flüchtlinge nicht abgenommen, da die Angriffe kaum zu einer Stabilisierung der Sicherheitslage vor Ort beigetragen haben."
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