- Im Oktober wählt Brasilien einen neuen Präsidenten.
- Die verheerende Bilanz der Politik Bolsonaros zeigt sich in der Amazonasregion sehr deutlich.
- Er sieht die Region als unerschöpfliche Rohstoffkammer und macht durch deren Ausbeutung Hoffnungen auf Wohlstand und Wachstum.
Während seiner ersten Amtszeit hat Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro viele Bereiche der Politik auf den Kopf gestellt. Aber nirgendwo zeigen sich die verheerenden Auswirkungen der rechten Politik so deutlich, wie in der Amazonasregion. Die Region wirkt nur scheinbar unberührt und ungezähmt.
Kaum ein Gebiet Brasiliens beherbergt so viele Konfliktherde wie der rund 5 Millionen Quadratkilometer große Urwald, dessen größter Teil - rund 60 Prozent - fast die Hälfte der Staatsfläche Brasiliens einnimmt.
In der Region herrscht reger Betrieb, wie man schon mit bloßem Auge aus dem Flugzeug erkennen kann. Fliegt man in die Urwald-Metropole Manaus, leuchten gelbe und graue Flecken, oft mehrere Hektar groß, durch das üppige Grün. Hier scheint der Boden durch die Baumkronen, ein sicheres Anzeichen dafür, dass an diese Stellen Holzfäller oder Goldsucher vorgestoßen sind – Glücksritter, meist armer Herkunft, die in den Städten keine Arbeit finden konnten und nun auf eigene Faust ihr Glück versuchen.
Bis zum Horizont sieht man viele dieser gelblich roten Flecken, dazu aufsteigende Rauchwolken – an diesen Stellen wird gerodet, werden Fakten geschaffen, wird oft auch getötet.
Umweltschutz und Indigene sind für Bolsonaro eine Entwicklungsbremse
2,5 bis 3 Millionen Einwohner zählt Manaus, die größte Stadt in der Amazonasregion, die nur mit dem Schiff oder dem Flugzeug von weiter her erreichbar ist. Auf bis zu 30 Millionen Menschen schätzen Experten die Zahl der Menschen, die in, von und mit diesem Raum leben wollen oder müssen – darunter etwa 400.000 indigene Ureinwohner. Die Frage, die sich hier stellt: Wie lange noch?
Denn Umweltschutz und Indigene sind Präsident Bolsonaro ein Dorn im Auge, oder besser: eine Entwicklungsbremse. Seit der rechte Präsident des größten Landes Südamerikas ist, rückte die Amazonasregion in den Fokus der Politik. "Amazonia é nosso" – "Amazonien gehört uns" ist immer wieder von ihm zu hören – trotz aller internationaler Kritik an den Brandrodungen, die seit seiner Amtsübernahme wieder extrem zugenommen haben.
Am 22. August dieses Jahres wurden 3.358 Brandherde registriert – fast dreimal so viele wie an jenem 10. August 2019, der als "Tag des Feuers" bekannt wurde und weltweit für Entsetzen gesorgt hatte.
Politikansatz wie zur Zeit der Militärdiktatur
Das alles ist kein Zufall, sondern Ergebnis einer Politik Bolsonaros, die die Amazonasregion als unerschöpfliche Rohstoffkammer sieht und durch deren Ausbeutung Hoffnungen auf Wohlstand und Wachstum macht – koste es, was es wolle. Indigene und ihre Rechte stören dabei nur. Bergbau-Lobbyisten gegenüber erscheint er dagegen aufgeschlossener.
Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass der Unternehmer Luis Felipe Belmonte unter anderem Geld an Bolsonaros jüngsten Sohn Renan Jair zahlte, um die Erlaubnis zu bekommen, in Indigenengebieten Mineralien abbauen zu dürfen.
Der Politikansatz ist nicht neu, er stammt aus den 1970er-Jahren, als in Brasilien das Militär regierte. Damals versuchte man, den gewaltigen Raum zu erschließen und strategisch zu sichern – auf Kosten der Natur. Wissenschaftler warnen, dass die Region auf einen Kipppunkt zusteuert, an dem das ganze Ökosystem zusammenbrechen könnte, mit fatalen Folgen.
Dieser "Point of no return" soll dann erreicht sein, wenn 20-25 Prozent der Fläche vernichtet wurden. Derzeit befinden wir uns bei rund 18 Prozent.
Das Militär spielt auch in Bolsonaros Regierung eine wesentliche Rolle. Mehr als 6.300 Militärs wurden während der Amtszeit Bolsonaros in Schlüsselpositionen in Ministerien und Ämter berufen, nicht selten ungeachtet einer fehlenden fachlichen Qualifikation. Hinzu kommen sieben Minister in wichtigen Ressorts wie Infrastruktur, Bergbau und Energie sowie (natürlich) Verteidigung.
Zudem sind Vize-Präsident, Ex-General Hamilton Mourão, und Bolsonaro selbst, als beinahe unehrenhaft entlassener Hauptmann der Reserve, uniformerfahren. Eine selten dagewesene Ballung und Beleg der Militarisierung der Politik Bolsonaros.
Doch nicht nur in den Ministerien hat Bolsonaro aufgerüstet. Auch in den Behörden, die die Umwelt und Indigene schützen, die Agrarreform voranbringen und einer ausgewogeneren Landwirtschaft den Weg ebnen sollten, installierte Bolsonaro militantes Personal, um seinem Politikansatz den Weg zu ebnen. Und oft geht diese Politik zulasten der indigenen Bevölkerung oder der Kleinbauern und zugunsten von illegalen Holzfällern, Goldsuchern und Großbauern.
Kleiner Sieg für Indigene
An sich könnte die Abgeordnete Joenia Wapichana zufrieden sein. Gegen ein Veto – angeblich sei das Thema nicht von öffentlichem Interesse - von Jair Bolsonaro hatte sie einen Vorschlag ins Parlament eingebracht, der auf breite Zustimmung stieß. Der seit den 1940er-Jahren immer am 19. April begangene "Dia do Indio" (Tag des Indios) wurde am 5. Juli umbenannt und wird ab dem nächsten Mal "Dia dos Povos Indigenas", Tag der indigenen Völker heißen.
414 Kongressabgeordnete stimmten für den Vorschlag, nur 39 dagegen. Der Begriff "Indio" wurde von Indigenen immer wieder als koloniales und damit überholtes Konzept kritisiert worden.
Ein kleiner Sieg für die Ureinwohner Brasiliens, die jedoch unter Bolsonaro allgemein wenig zu lachen haben. Immer wieder sehen sie Holzfäller und Goldsucher in ihre Schutzgebiete eindringen. Oft kommt es zu blutigen Auseinandersetzungen, die juristisch kaum verfolgt werden, wie Menschenrechtsorganisationen wie Human Richts Watch regelmäßig anprangern.
Gewalt gegen Indigene und Kleinbauern hat zugenommen
Seit der Amtsübernahme hat die Gewalt von Milizen gegen Kleinbauern zugenommen. "Das System Bolsonaro setzt auf Gewalt. Sei es in Amazonien, wo illegale Eindringlinge ermutigt werden, indigene Gebiete auszubeuten oder in den Großstädten, wo Bolsonaro Polizisten de facto Straffreiheit in Aussicht stellt, sollten bei ihren Einsätzen Personen ums Leben kommen.
Ein alarmierender Ausblick: in 2021 wurden über 6.000 Menschen durch die Polizei umgebracht, im Jahre 2015 waren es 3.330", schreibt die Heinrich Böll Stiftung. Prominenteste Beispiele dieser Straflosigkeit ist der Tod des britischen Journalisten Dom Phillips und des Indigenenexperten Bruno Pereira im Juni dieses Jahres.
Die Regierung schaut nicht nur weg, sie geht sogar noch weiter und forciert die illegale Landnahme in Schutzgebieten. Seit April 2020 gibt es eine Verordnung, die zulässt, besetztes Land als Privatbesitz registrieren zu lassen, wenn es in noch nicht exakt definierten und anerkannten Indigenengebieten liegt. Und das, obwohl die brasilianische Verfassung Indigenen explizit ein Recht auf ihre angestammten Gebiete einräumt. Doch die Sache hat einen Haken.
Illegale Landnahme in Schutzgebieten wird legalisiert
Seit 2014 ist der Anerkennungsprozess der Indigenengebiete ins Stocken geraten. Grundlage hierfür ist der sogenannte "Marco temporal". Dieser besagt, dass Indigene nur Land beanspruchen können, auf das die schon einen Anspruch hatten, als 1988 nach der Diktatur die demokratische Verfassung in Kraft trat. Seither hat der Oberste Gerichtshof STF die weitere Ausweisung von Schutzgebieten für Indigene auf Eis gelegt.
Folge: Stämme klagen seither vor den Gerichten, während sich illegale Landbesetzer die Gebiete in aller Ruhe unter den Nagel reißen. So wurden seit 2020 alleine im Bundesstaat Maranhão 250.000 Hektar illegal erworbenes Land in 49 Indigenengebieten legalisiert. Zuständig für die Legalisierung ist die Bundesagentur für Landreform INCRA.
Als deren Chef setzte Bolsonaro Nabhan Garcia ein – und seither läuft es so, wie der Präsident es will. Die INCRA erteilte Genehmigungen für Farmen in indigenen Gebieten, die seit mehr als 20 Jahren auf Anerkennung warten. Der Mann, der eigentlich als Mittler zwischen Groß- und Kleinbauern für eine Lösung sorgen soll, ist kein Unbekannter.
Garcia war Präsident der UDR, einer Großgrundbesitzervereinigung, die auch vor Gewalt nicht zurückschreckt. Als 2003 der linke Luiz Inácio Lula da Silva Präsident wurde, organisierte er Privatmilizen, um die agroindustriellen Betriebe vor der Landlosenbewegung MST zu "schützen". Die Bewegung selbst bezeichnete die Personalie als "Militarisierung der Landfrage".
Landreform in Händen des Agrobusiness
Eigentlich hat Garcia nur den Rang eines Staatssekretärs, ist offiziell dem Landwirtschaftsministerium unterstellt. Zurückgepfiffen wird er deshalb von Ministerin Tereza Cristina Corrêa da Costa Dias nicht. Denn ihre Politik unterstützt in erster Linie das große Agrobusiness. Die "Muse des Gifts", wie Tereza Cristina von Kritikern genannt wird, zeigt sich sehr großzügig bei der Zulassung von Pestiziden, um die Produktivität zu erhöhen.
Mehr als 200 Substanzen, die in Deutschland und der EU teilweise seit Jahrzehnten verboten sind, wurden während ihrer Amtszeit zugelassen, zum Wohle des Agrobusiness.
Das ist kein Zufall. Bolsonaro übernahm Brasilien mitten in der Wirtschaftskrise. Der Agrarsektor, der immer stärker auf den Export ausgerichtet ist, trug maßgeblich dazu bei, dass die Wirtschaftsbilanz Bolsonaros noch ein hauchdünnes Plus verzeichnet. Mit fast 25 Prozent Anteil beim BIP hat die Landwirtschaft in den letzten Jahren wieder stark an Bedeutung gewonnen.
Großgrundbesitzer stützen die Macht Bolsonaros
Zudem sind die Großgrundbesitzer eine wesentliche Säule der Macht Bolsonaros. Die "bancada boi", eine fraktionsübergreifende Interessenvertretung im Parlament, gehört neben den evangelikalen Pfingstkirchen und der Waffenlobby (die den Großgrundbesitzern zum Teil nahesteht bzw. Teil davon ist) zu den einflussreichsten Interessensgruppen in der brasilianischen Politik. Gerade in Zeiten, in denen es wirtschaftlich ruckelt, kommt Bolsonaro an dieser Gruppe nicht vorbei.
Will er auch gar nicht. Im Gegenteil: Wesentliche Teile seiner Politik zielen darauf, diese Klientel zu bedienen. Wenn es sein muss, auf Kosten von Indigenen oder der Umwelt. Hierfür hatte er zunächst in Umweltminister Ricardo Salles einen willfährigen Gehilfen. Dieser war bei Eintritt in die Regierung bereits skandalerprobt. Ende 2018 wurde er verurteilt, weil er als Umweltsekretär in São Paulo Landkarten zugunsten von Unternehmen überarbeitet haben sollte.
Bekannt wurde er jedoch durch einen Videomitschnitt aus einer Kabinettssitzung, in der er vorschlug, die allgemeine Verwirrung der Coronapandemie dafür zu nutzen, Umweltstandards zu lockern.
Umweltminister stürzt über Kontakt zur Holzmafia
Kontrovers waren auch Forderungen Salles, die Amazonasregion zu "monetarisieren", also Geld für den Schutz und Erhalt von außen zu erlösen. Einen solchen Ansatz gab es schon, der liegt aber derzeit auf Eis. Der "Fundo Amazonico" (Amazonasfonds), den Norwegen und Deutschland milliardenschwer aufgelegt hatten, hatte genau dies zum Zweck. Die Geberländer hatten die Zahlung des Geldes aus Protest gegen Bolsonaros Abholzungspolitik in der ersten Jahreshälfte 2019 eingestellt.
Letztlich zu Fall brachten Salles jedoch seine mutmaßlichen Verstrickungen mit der Holzmafia. Salles werden Interessenvertretung im Amt, Behinderung der Umweltinspektion und Behinderung der Untersuchung einer Straftat, an der eine kriminelle Vereinigung beteiligt ist, vorgeworfen. Die Bundespolizei PF ermittelt außerdem wegen des Vorwurfs, er habe seine Position genutzt, um die Kontrollen des Holzexports durch das IBAMA, die Umweltbehörde des Landes, zu schwächen.
Die Umweltschutzbehörde IBAMA, die zum Kampf gegen illegalen Bergbau und Holzeinschlag verantwortlich war, wurde von der Regierung Bolsonaros finanzielle ausgetrocknet. Beamte wurden versetzt oder bestraft, wenn sie trotz allem noch gegen illegale Goldsucher ermittelten. Der Indigenenbehörde FUNAI erging es ähnlich. Mit Marcelo Augusto Xavier stellte Bolsonaro der Behörde zudem einen Politiker voran, der der Landwirtschaftslobby entstammt.
"Es ist erschreckend, dass vieles, das in 15 Jahren aufgebaut worden war, in so kurzer Zeit zerschlagen werden kann", sagt Wolfgang Hees. Er ist Vorstandsmitglied der "Freunde des MST", einer deutschen NGO, die direkt an der Arbeit der Landlosenbewegung MST anknüpft und diese unterstützt.
Auch die Strukturen, die geschaffen worden waren, waren offensichtlich nicht hinreichend gesichert worden, so Hees. Das Ergebnis: "Brasilien ist auf der Hungerkarte zurück." Und wie: Während die Regierung sich rühmt, weltweit 1 Milliarde Menschen mit Lebensmitteln versorgen zu können, hungern in Brasilien selbst rund 30 Millionen Menschen. Negative Effekte, die im Falle einer Wiederwahl Bolsonaros wohl noch zunehmen würde, befürchtet Hees. "Die Zerstörung würde weiter zunehmen, die Ausbeutung der Bodenschätze auf Teufel komm raus völlig ungehemmt betrieben."
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Wolfgang Hees
- brasil247.com: Jair Renan e aliados de Bolsonaro receberam dinheiro de empresário que fazia lobby por garimpo em terras indígenas
- brasildefato.com.br: Presença militar no governo Bolsonaro é corporativista e sem projeto, diz pesquisador
- camara.leg.br: Nova lei denomina o 19 de abril como Dia dos Povos Indígenas, em substituição a Dia do Índio
- mstbrasilien.de: Neuer Staatssekretär bricht Dialog mit MST und fördert Panorama der Gewalt gegenüber Landlosen und indigenen Gruppen
- revistaforum.com.br: Relembre escândalos de Ricardo Salles, ex-ministro do Meio Ambiente de Bolsonaro que passou a boiada no Brasil
- cnn.com: Brazilian Environment Minister Ricardo Salles resigns amid Amazon illegal logging probe
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