Unter dem Motto #wirsindmehr haben in Chemnitz namhafte Bands ein kostenloses Konzert gegeben, um gemeinsam mit den Besuchern ein Zeichen gegen Rechts zu setzen. Mittendrin unsere Redakteurin - die ganz neue Eindrücke von ihrer Heimatstadt gewinnt.
Seit 1971 steht das Karl-Marx-Denkmal in Chemnitz. Wenn das mehr als sieben Meter große Monument reden könnte, es hätte eine Menge zu erzählen. Zum Beispiel von Aufmärschen und Demonstrationen auf der großen Allee zu seinen Füßen.
Zu DDR-Zeiten standen wir als Pioniere hier bereits Spalier. Am 1. Mai, dem Tag der Arbeit. In den Händen hielten wir eine große, aus Krepp gebastelte Nelke. Einmal war auch Erich Honecker da. Da waren nicht nur wir, sondern auch die Straßen herausgeputzt.
Einige Jahre später, im Herbst 1989, kamen wir wieder am Karl-Marx-Kopf zusammen. Zu den friedlichen Montagsdemonstrationen.
Ich lebe seit über 20 Jahren nicht mehr in Chemnitz, bin jetzt aber wieder zu einer Demonstration hergekommen. Unter dem Motto #wirsindmehr haben sich eine Reihe von großen Bands angekündigt, um Menschen zu mobilisieren und gemeinsam ein Zeichen gegen Rechts zu setzen.
Schon am Nachmittag versammeln sich die Menschen am "Nischel", wie wir Chemnitzer das Karl-Marx-Monument nennen. Die Stimmung ist fröhlich und gelöst. Sie sind von überall gekommen: Tübingen, Berlin, Nürnberg, Pirna, Bochum, Leipzig, München - und aus Chemnitz. Viele sind jung, unter 35 Jahre. Die Menschen kommen mit selbstgebastelten Plakaten und Fahnen.
Ein Hauch von Festivalfeeling mitten in Chemnitz. Es ist warm, T-Shirt-Wetter. Kostenlos wird "Erdbeereis Nazifrei" verteilt, es gibt auch alkoholfreie Getränke umsonst. Alles andere bringen sich die Menschen selbst mit, manche kommen mit Picknickdecke und Stühlen.
"Ausländer sind willkommene Sündenböcke"
So auch Mathis Stendike (52), Musiker aus Chemnitz. Er bietet den Umstehenden seine mitgebrachten Käsewürfel an. Die letzte Woche in Chemnitz sei schlimm für ihn gewesen.
"Es ist schwer nachzuvollziehen, was das Problem mancher Leute ist, weil es ihnen doch eigentlich gut geht", erklärt er. Er selbst ist auch bereits letzte Woche auf einigen Kundgebungen gewesen, man müsse ja ein Zeichen setzen und etwas tun.
"Die Ausländer sind ein willkommener Sündenbock für viele eigene Probleme. Viele Menschen sind arbeitslos. Und dann richtet sich die Wut gegen die Ausländer", ergänzt seine Frau.
In den Augen von Mathis Stendike ist es jetzt wichtig, dass sich die Gemüter wieder beruhigen. "In so einer aufgehitzten Stimmung kann man nicht mehr diskutieren. Aber das ist doch wichtig", betont er.
Um 17 Uhr beginnt das Konzert mit Eröffnungsreden und einer Schweigeminute für Daniel H. Aufgrund der vielen Menschen, die bei Facebook ihre Teilnahme angekündigt haben, wurde der Ort kurzfristig verlegt. Statt direkt vor dem Karl-Marx-Monument wurde die Bühne jetzt auf einem großen Platz an der Johanniskirche aufgebaut.
Die Menge tobt bei "Schrei nach Liebe"
Zuerst tritt Trettmann auf. Er heißt normalerweise Stefan Richter und ist aufgewachsen in Chemnitz, Heckert-Gebiet. Für einen Song holt er sich mit Felix Brummer von Kraftklub prominente lokale Unterstützung auf die Bühne.
Es folgen Auftritte von Feine Sahne Fischfilet, K.I.Z., erneut Kraftklub, Nura, Marteria, Casper und den Toten Hosen.
Campino und seine Band haben mit "Madelaine aus Lüdenscheid" und "Sascha" eigentlich selbst genügend Anti-Nazi-Songs in petto. Doch an einem solchen Tag bräuchten sie Unterstützung von ihren großen Brüdern, so der Frontman. Und dann holt Campino mit den Worten "hier ist Mister Rod González von der besten Band der Welt" den Bassist der Ärzte auf die Bühne.
Gemeinsam mit Arnim Teutoburg-Weiß von den Beatsteaks singen sie den Ärzte-Klassiker "Schrei nach Liebe". Die Menge tobt und singt lautstark mit. "Wir sind gerührt und begeistert von diesem Abend", schreit Campino. "Und wenn das hier gewaltfrei bleibt, dann haben wir 5:0 gewonnen."
Es bleibt ausgelassen und friedlich
Und das blieb es. Auf dem Dach eines Hochhauses wird ein Bengalo gezündet, sonst bleibt es ausgelassen und friedlich. Die Menschen feiern diesen Tag in Chemnitz, und jeder ist ein wenig erstaunt, wie viele Leute tatsächlich gekommen sind.
Viele waren lange unterwegs, wie eine Gruppe Jugendliche aus Bochum. Sie sind gekommen, um ein Zeichen zu setzen und natürlich auch wegen der Musik.
Benedikt ist aus Tübingen angereist. Ihm war das wichtig. Man müsse zeigen, dass wir so viel mehr seien. Erst später erfährt man, wie viele mehr es tatsächlich waren. 65.0000 Besucher, so die offiziellen Zahlen der Stadt Chemnitz. 65.000 Menschen, die sich zu den letzten Akkorden von "You‘ll never walk Alone" ruhig und friedlich auf den Heimweg begeben. Viele statten Karl Marx noch einen Besuch ab.
Ich habe meine Stadt so noch nie erlebt. So voll, so jung, so ausgelassen. Auf einem selbstgebastelten Plakat steht "Karl mags nicht". Worauf auch immer sich das beziehen mag: Das, was heute in Chemnitz geschehen ist, hätte er gemocht.
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