- Die Bundesregierung verspricht, jedes durch die Coronakrise in Not geratene Unternehmen zu unterstützen.
- Die Realität sieht jedoch oftmals anders aus, wie unsere Recherchen zeigen.
- Zwei Einzelhändlerinnen und eine Gastronomin schildern, wie sie versuchen, ihre Geschäfte durch die Pandemie zu bringen.
Als das Telefon klingelt, steht Beate Lemcke gerade in ihrem Laden in Berlin-Mitte. Es ist Zufall. Denn anders als in Vor-Corona-Zeiten schaut die 58-Jährige in diesen Wochen nur noch zwei- oder dreimal in der Woche in ihr Geschäft. "Es ist jedes Mal sehr emotional, wenn ich gehe und die Tür hinter mir abschließe", sagt Lemcke am anderen Ende der Leitung.
Seit 25 Jahren betreibt sie den kleinen, auf irische Kleidung, Schmuck und Lebensmittel spezialisierten Laden in der Hauptstadt. Gerade jetzt im Winter, der Hauptgeschäftszeit für ihre Wollprodukte, Schals, dicken Pullover und Mützen, muss Lemcke ihren Laden schließen. Ihr entgehen dadurch etwa 10.000 Euro Umsatz im Monat. Nach dem ersten, gut überstandenen Lockdown im Frühling hat sie die Coronakrise erneut eingeholt. Nun mit voller Wucht.
Um die Pandemie einzudämmen mussten bundesweit alle Gastronomen Anfang November zusperren, Friseure, Massagepraxen, Tattoo-Studios und die meisten Einzelhändler folgten Mitte Dezember.
Die Bundesregierung hat für die Branchen großzügige Hilfen angekündigt und Dutzende Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. "Für jedes Unternehmen die passende Unterstützung zur richtigen Zeit", heißt es auf der Webseite des Bundesfinanzministeriums. Doch die Realität sieht vielfach anders aus, wie unsere Recherchen zeigen. Bisher ist nur ein Bruchteil der Mittel bei den Unternehmen angekommen, die teils seit drei Monaten um ihre Existenz kämpfen.
Bisher nur etwa ein Zehntel der bereitgestellten Mittel ausgezahlt
Derzeit gibt es in Deutschland – neben Kurzarbeitergeld, Krediten und Steuererleichterungen – mehrere Rettungsprogramme für die Wirtschaft:
- Unternehmer, die ihre Geschäfte seit dem 2. November gar nicht mehr öffnen dürfen, können über die November- und Dezemberhilfe bis zu 75 Prozent ihres Umsatzes vom jeweiligen Monat des Vorjahres erstattet bekommen.
- Alternativ können sie auch Überbrückungshilfe beantragen. Deren dritte Auflage steht theoretisch auch all jenen Unternehmen, Soloselbstständigen und Freiberuflern zu, deren Umsatz seit dem zweiten Lockdown um mindestens 30 Prozent eingebrochen ist. Sie können einen Zuschuss für ihre Fixkosten in Höhe von maximal 1,5 Millionen Euro pro Monat beantragen.
In der Praxis holpert es jedoch gewaltig. Das zeigt ein Blick auf aktuelle Zahlen. Demnach wurde bisher nur etwa ein Zehntel der bereitgestellten Mittel ausgezahlt:
- Insgesamt wurden bislang knapp 3 Milliarden Euro an Überbrückungshilfe I und II (umfasst die Fördermonate Juni bis Dezember 2020) ausgezahlt, wie das Bundesfinanzministerium am Donnerstag auf Anfrage unserer Redaktion mitteilte. Damit seien über 190.000 Unternehmen unterstützt worden. Im Haushalt 2020 sind für die Überbrückungshilfen I und II insgesamt maximal 24,6 Milliarden Euro veranschlagt.
- Bisher sind laut Bundesfinanzministerium bei der November- und Dezemberhilfe Abschlagszahlungen in Höhe von insgesamt 3,9 Milliarden Euro an mehr als eine halbe Millionen Unternehmen geflossen. Insgesamt sind im Haushalt für dieses Jahr maximal 39,5 Milliarden Euro für November- und Dezemberhilfe sowie die Überbrückungshilfe III (umfasst die Fördermonate ab Januar 2021) veranschlagt.
"Ich lebe jetzt vom Ersparten"
Den Angaben des Bundesfinanzministeriums zufolge haben 94 Prozent aller Unternehmen, die November- beziehungsweise Dezemberhilfe beantragten, bereits ihre Abschlagszahlungen erhalten. Auch die Geschäftsführerinnen, mit denen unsere Redaktion gesprochen hat, bestätigen, dass sie beantragtes Geld für die beiden Monate – wenn auch spät – erhalten haben.
Das ist allerdings nur ein Teil des Bildes: Für die Corona-Hilfen muss – bis auf wenige Ausnahmen – immer ein Steuerberater, Wirtschaftsprüfer oder Anwalt eingeschaltet werden. Die wiederum versinken in der Flut von Anfragen und Richtlinien. Letztere ändert das Wirtschaftsministerium zudem ständig. "Jeden Tag können wir schauen, ob der Antrag, den wir vor einer Woche gestellt haben, noch stimmt oder nicht", sagte Steuerberaterin Theresia Lindner dem Bayerischen Rundfunk.
Viele Kleinunternehmen haben von einer Beantragung der Hilfen ganz abgesehen - weil ihnen die Hürden zu hoch sind, sie aus dem Raster fallen oder es sich nicht für sie rechnet. "Mein Steuerberater hat gesagt: 'Lassen Sie die Finger davon, sie müssten mit 700 Euro in Vorkasse gehen'", sagt Einzelhändlerin Lemcke. Sie ergänzt: "Bisher trifft keine der Hilfen auf mich zu."
Monatlich habe Lemcke Fixkosten in Höhe von etwa 1.000 Euro, parallel laufen ihre privaten Kosten weiter. "Ich lebe jetzt vom Ersparten", erklärt Lemcke, die sich plötzlich in der ungewohnten wie unangenehmen Rolle einer Bittstellerin wiederfindet. "Ich fühle mich alleingelassen. Und dass ich alles, was ich verdient habe, hergeben muss." Ihren letzten Urlaub habe sie 2008 gemacht, ihren Laden eigentlich nie länger als zwei Tage hintereinander zugemacht.
3.000 Euro Novemberhilfe ausgezahlt – bei 10.000 Euro Ausgaben im Monat
Auch Heike Dinse, die in Kühlungsborn an der Ostsee ein Restaurant mit fünf Angestellten betreibt, kann mit den Hilfen nicht viel anfangen. Sie klagt zudem über das komplizierte Verfahren. Dinse hat ihr Unternehmen erst im Juli 2019 eröffnet. Nach einem schleppenden Start hätten ihr die Monate nach dem ersten Lockdown gezeigt, "dass mein Restaurant der absolute Renner ist".
Dann kam die Schließung im Herbst, trotz Hygienekonzept. "Bei der Novemberhilfe habe ich einen Abschlag von insgesamt 3.000 Euro bekommen – das ist gar nichts bei 10.000 Euro Ausgaben im Monat", sagt Dinse. Damit sei noch nicht einmal die Miete gedeckt. Nachdem Köche und Kellner ihre verbleibenden Urlaubstage verbraucht hatten, habe sie für ihre Angestellten Kurzarbeitergeld beantragt.
Nun steht sie vor weiteren Problemen. Das erste: Das Kurzarbeitergeld wird von den Hilfen abgezogen. "Da brauche ich die gar nicht erst beantragen", sagt Dinse. Und das zweite: Die Überbrückungshilfe III, die ab Januar greifen soll, kann aber erst ab Februar beantragt werden, die Auszahlungen starten sogar erst im März.
Wenn sie die Überbrückungshilfe III nicht zeitnah bekomme, sehe es ab März schlecht aus, sagt Dinse. "Monat auf Monat schiebt sich alles auf, ich muss so lange alles selbst auslegen." Wegen der Neugründung fehlen der Gastronomin aber Rücklagen. "Ich bleibe auf allem sitzen, während meine sämtlichen Kosten weiterlaufen", klagt Dinse. "Und wenn ich die Krankenkassenbeiträge einen Tag zu spät überweise, kommt schon die Mahnung."
Forscher warnen vor einer "Spaltung der Volkswirtschaft"
Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW Köln) kritisiert in einem Mitte Januar veröffentlichten Bericht das Verfahren. "Zwar wurden die Rettungsprogramme schnell angekündigt und eingerichtet, die Auszahlungen verlaufen aber nur schleppend." Das Urteil der Wirtschaftsforscher Hubertus Bardt und Michael Hüther ist vernichtend: Der "enttäuschend langsame" Abfluss der zur Verfügung gestellten Mittel liege daran, dass "die Hilfen zu bürokratisch sind und schlecht administriert werden".
Die beiden Experten des IW Köln warnen vor einer "Spaltung der Volkswirtschaft" in robuste Industrieunternehmen und einen "existenzbedrohten Mittelstand in den stark betroffenen Konsumbereichen". Bereits im Dezember habe man einen Anstieg an Insolvenzen registriert.
Der Unmut aus der Wirtschaft hat mittlerweile das zuständige Ministerium erreicht. Er verstehe die Unzufriedenheit der Betroffenen, sagte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier am Donnerstag im Bundestag bei einer Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht.
Der CDU-Politiker sicherte betroffenen Firmen zu, alles dafür zu tun, dass Corona-Hilfen so schnell wie möglich ankommen. Zugleich schränkte Altmaier ein: "Wir sind allerdings auch dem Steuerzahler verpflichtet." Missbräuche müssten nach Möglichkeit vermieden werden.
Die Altersversorgung ist "futsch"
Vielen Betroffenen fehlt neben Geld vor allem eine Aussicht auf eine Wiedereröffnung. Ein Zeitrahmen. Etwas Hoffnung. "Die Menschen brauchen dringend wieder eine Perspektive, dass sie ihre Existenz weiter bestreiten können", schreibt Gudrun Müller in einer E-Mail an die Redaktion. Der Lockdown müsse "so schnell wie möglich" beendet werden, "damit wir Kleinen die Chance haben, uns vielleicht doch wieder zu berappeln".
Wie verzweifelt die 65-Jährige ist, wird im Gespräch mit ihr deutlich. Vor sieben Jahren habe sie ihr "spezielles kleines Lädchen" mit Vintage-, Party- und Festtagsmode in Königswinter am Rhein eröffnet, erzählt sie. Eine Nische, aber bei Veranstaltungen und Festen sei die Nachfrage groß gewesen. Auch Touristen seien gekommen.
All das sei wegen der Pandemie weggebrochen. Für Müller war das Geschäft ihre Altersversorgung. "Das ist futsch", sagt sie. Seit September bezieht sie nun Hartz IV, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.
"Ich will weiter versuchen den Laden aufrechtzuerhalten", betont Müller. Annähernd 1.000 Euro würden die Kosten pro Monat betragen. Die Novemberhilfe könne sie nicht in Anspruch nehmen, von der beantragten Dezemberhilfe sei nur die Hälfte ausgezahlt worden. Und die bereits im September angeforderte Überbrückungshilfe kam erst einen Tag vor Weihnachten.
Verwendete Quellen:
- Gespräche mit und E-Mails von Beate Lemcke (Ladeninhaberin aus Berlin), Heike Dinse (Gastronomin aus Kühlungsborn) und Gudrun Müller (Ladeninhaberin aus Königswinter)
- E-Mail-Anfrage an das Bundesministerium der Finanzen
- Offizielle Webseite des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie für die Corona-Hilfen: www.ueberbrueckungshilfe-unternehmen.de
- Kurzbericht des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln: "Corona-Hilfen: Schleppende Auszahlung"
- Bayerischer Rundfunk: "Corona-Hilfen: Steuerberater am Limit"
- Meldungen der Deutschen Presse-Agentur
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