- Die "Querdenker"-Proteste richten sich gegen die Corona-Auflagen der Regierung.
- Was die Demonstranten mit anderen Verschwörungstheoretikern gemeinsam haben und wieso sie sich oft als Helden und Opfer sehen.
Auf Großdemonstrationen - gewährleistet durch die Meinungsfreiheit - protestieren die "Querdenker" gegen vermeintliche Unterdrückung, vergleichen sich sogar mit ermordeten Opfern der Nazi-Diktatur. Sie sehen sich selbst als Systemkritiker, wissenschaftlichen Autoritäten misstrauen sie.
Psychologe und Konfliktforscher Jonas Rees erklärt, was Menschen gemeinsam haben, die an Verschwörungstheorien glauben und wieso sie sich oft als Opfer und Helden bezeichnen.
Laut einer Befragung im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung haben 30 Prozent der Deutschen eine Affinität zu Verschwörungstheorien, elf Prozent sagen, sie seien sich sicher, dass geheime Mächte die Welt steuern würden. Überraschen Sie diese Zahlen?
Jonas Rees: Überhaupt nicht. Wir wissen schon länger, dass etwa die Hälfte aller Deutschen für Verschwörungserzählungen empfänglich ist, auch schon vor Corona. Nun haben wir es während der Corona-Pandemie nochmal mit deutlich veränderten Voraussetzungen zu tun, die - man könnte sagen - ein perfekter Nährboden für solche Erzählungen sind.
Sie sprechen von Verschwörungserzählungen statt -theorien. Warum?
Wir haben es bei Verschwörungserzählungen eben nicht mit Theorien im wissenschaftlichen Sinne zu tun, die man widerlegen kann, zu denen man Daten sammeln und dann auf deren Grundlage entscheiden kann: "Diese Theorie ist tragfähig oder nicht." Sondern es sind Erzählungen. Viele Menschen mögen ja auch einfach eine gute Erzählung, sie ist interessant, man kann sich damit beschäftigen, mit Gleichgesinnten darüber austauschen. Passenderweise wird immer mehr von Verschwörungserzählungen statt von -theorien gesprochen.
Rees: "Schwer auszuhalten, mit Unsicherheit klarzukommen"
Sie sagen, die aktuelle Zeit während der Pandemie sei ein Nährboden für solche Erzählungen, weil Menschen Angst haben?
Wenn Sie so wollen, gibt es eine Zutatenliste, was eine erfolgreiche Verschwörungserzählung ausmacht. Ein Element, das Sie quasi immer finden, ist eine Art vorsätzlicher oder großer Plan. Ein zweites wichtiges Element: vermeintlich einflussreiche Gruppen oder auch einzelne Personen - die Betonung liegt hier auf vermeintlich. Ob sie wirklich mächtig sind, ist nicht wichtig, nicht einmal, ob es sie überhaupt gibt. Es können erfundene Akteure sein. Das dritte Element, das Sie in eigentlich jeder großen Verschwörungserzählung wiederfinden, sind weltumspannende bedrohliche Ereignisse. Von 9/11 bis zur Brunnenvergiftung, einer klassischen Verschwörungserzählung aus dem Mittelalter, die auf antisemitischen Motiven fußt - es sind immer die drei Zutaten zu finden: großer Plan, einflussreiche Akteure und weltumspannende bedrohliche Ereignisse. Wenn Sie jetzt die Verschwörungserzählungen um Corona vergleichen, erfüllen die in aller Regel diese Kriterien. Sie sprechen von Angst - statt Angst scheint es mir vielmehr um Verunsicherung zu gehen. Studien finden, dass Unsicherheit Menschen empfänglich für Erklärungsangebote macht. Wenn mir beispielsweise erklärt wird, dass sich Leute die Corona-Pandemie einfach ausgedacht haben, dann ist das einerseits eine Versicherung, "ich muss mir keine Sorgen machen" - die Welt wird aber auch wieder erklärbar. Oder eine andere Erklärungsversion: "Das Virus ist zwar echt, aber Wissenschaftler haben es im Labor hergestellt, um der Menschheit etwas Böses zu tun." Psychologisch ist es für uns Menschen nur schwer auszuhalten, mit Unsicherheit klarzukommen, abwarten zu müssen, wie sich die Situation entwickelt. Verschwörungserzählungen bieten eine Möglichkeit, damit umzugehen.
Wissenschaftler und Experten bieten doch aber auch Erklärungen.
Ja, die Frage ist doch aber, ob solchen Institutionen vertraut wird. Vertrauen wir Wissenschaftlern, Virologen, Politikern überhaupt, dass sie in unserem Sinne argumentieren und handeln? Wenn Sie sich die Biografien von Menschen anschauen, die in die Szene der Verschwörungserzählungen abtauchen, dann finden Sie häufig, dass es einschneidende Ereignisse gab, die ihr Leben komplett infrage gestellt haben. Sowas wie der Verlust einer langjährigen Beziehung, ein Autounfall, bei dem man fast ums Leben gekommen ist. Solche Erlebnisse, die im Prinzip ja auch eine fundamentale Verunsicherung darstellen. Das löst psychologisch dann eine Orientierungsreaktion aus, wo Menschen vieles infrage stellen und überdenken, wie sie ihr Leben und die Welt sehen.
Rees: "Gehen auffällig unkritisch mit ihren eigenen Quellen um"
Die Argumentation von traditionell anerkannten Quellen lehnen sie also ab. Vielleicht können Sie einmal skizzieren, wie diese Menschen argumentieren.
In der Diskussion über die Gruppe lässt sich eine gewisse Abwehrhaltung beobachten, in der Art: "Mit denen will ich mich gar nicht beschäftigen". Ich finde, zu einer funktionierenden Demokratie wie in Deutschland gehört grundsätzlich auch, gewisse Dinge kritisch infrage zu stellen. Dazu gehört sicherlich auch, wie viel Einschränkung von Grundrechten wir bereit sind, in Kauf zu nehmen, um die Gesundheit und das Leben von Menschen zu schützen. Eine legitime Diskussion. Es ist doch aber bemerkenswert, dass die sogenannten Querdenker zwar für sich in Anspruch nehmen, kritisch über Demokratie und offizielle Quellen nachzudenken, gleichzeitig aber auffällig unkritisch mit ihren eigenen Quellen umgehen. Sie vertrauen zwielichtigen Seiten im Internet, glauben, was jemand auf YouTube sagt oder bei Facebook schreibt. Um als kritische Demokraten ernst genommen zu werden, haben diese Leute außerdem aus meiner Sicht viel zu lange versäumt und tun es weiterhin, sich klar von Rechtsextremen abzugrenzen, die von Anfang an diese Bewegung unterwandert, mitorganisiert, zu Demonstrationen aufgerufen haben, dort prominent aufgetreten sind und dies weiterhin tun. Wenn man demokratische Spielregeln für sich in Anspruch nimmt, muss man doch auch klarmachen, dass man mit Rechtsextremisten, die die Demokratie ablehnen, nichts zu tun haben will. Das ist in der Logik dieser Bewegung weiterhin ein klaffender Widerspruch.
Die "Querdenker"-Bewegung setzt sich aus Menschen mit sehr unterschiedlichen politischen Ideologien zusammen - von Personen aus der Mitte der Gesellschaft über solche, die sich selbst eher links einordnen, bis hin zu Rechtsextremen. Was eint sie denn über die Verunsicherung hinaus, gibt es da vielleicht eine bestimmte Persönlichkeit?
Ein einendes Element ist das Misstrauen gegenüber Autoritäten, Institutionen und der Demokratie. Menschen aus dem esoterischen Spektrum oder solche, die der alternativen Medizin anhängen, stellen ja auch die Schulmedizin als eine Autorität infrage, sind vielleicht mit manchen politischen Entscheidungen nicht einverstanden. Überzeugte Anhänger von Verschwörungserzählungen sind im Grundsatz auch demokratiefeindlich, sie nehmen zwar für sich in Anspruch, kritisch nachzudenken, alles infrage zu stellen. Aber wir haben ja eine funktionierende Demokratie in Deutschland. Wenn selbst die infrage gestellt wird mit dem Verweis, es gäbe in Deutschland keine Demokratie, sondern nur eine mächtige Gruppe, die heimlich ihr Ding macht, haben wir ein Problem, weil uns der gemeinsame Bezugspunkt abhandenkommt.
Rees: "Menschen sehen sich als Widerstand gegen böse Mächte"
Dann wird der Grundkonsens der Demokratie infrage gestellt und an einem solchen Punkt funktioniert der Diskurs nicht mehr. In der Logik der Verschwörungserzählung wird es an der Stelle schnell dramatisch, denn diese Leute denken dann, sie würden für ihre Freiheit kämpfen.
Es ist ein typisch sozialpsychologisches Phänomen, dass wir von außen auf eine Gruppe schauen und sagen: "Ihr seid doch alle verrückt". Wenn man selbst Teil der Gruppe ist, fühlt man sich ungerecht behandelt. Die vielen Widersprüche in der Argumentation dieser Gruppe, die wir von außen wahrnehmen, die sieht die Gruppe selbst von innen nicht zwangsläufig so.
Sie haben gesagt, dass diese Menschen mitunter überzeugt sind, für ihre Freiheit zu kämpfen. Es gab einen Vorfall, der unter #JanaausKassel in sozialen Medien große Aufmerksamkeit erfuhr. Eine Frau auf einer Demo in Kassel hat sich mit der vom Nazi-Regime ermordeten Widerstandskämpferin Sophie Scholl verglichen. Wie kann man sich die Gedanken, die zu solch einem abwegigen und geschichtsrevisionistischen Vergleich führen, vorstellen?
Grundsätzlich denke ich, dass es nicht zielführend ist, sich an Einzelfällen abzuarbeiten. Die allermeisten sind zurecht schockiert über solche Vergleiche. Es herrscht ein Konsens, dass das auf keinen Fall geht, der Vergleich von Coronaprotesten und dem Widerstand gegen das NS-Regime unerträglich und historisch vollkommen absurd ist. Aber ich will nicht ausschließen, dass es Menschen gibt, die vollkommen von Verschwörungserzählungen überzeugt sind, wirklich glauben, sie würden von einem Unrechtsregime verfolgt. Denn Verschwörungen sind Geschichten, in denen Menschen sich und ihre Umgebung konstruieren. In der Erzählung gibt es Bösewichte - im Zusammenhang mit Corona etwa Bill Gates, die "Impflobby", Politiker - und auf der anderen Seite diejenigen, die sich dem vermeintlich entgegenstellen. Diese Menschen sehen sich als Widerstand gegen böse Mächte, da ist es - nach ihrer Logik - nur folgerichtig konstruiert: Sie wären die Opfer. Denn die Bösewichte und die untätige große Masse gäbe es ja schon. Da würde ja nur die Rolle der Opfer bleiben, beziehungsweise der Heldinnen und Helden im Widerstand. Dieses Opfermotiv kennen wir auch von rechtsextremen Verschwörungserzählungen. Wenn man sich selbst als Opfer konstruiert, geht damit ja auch einher, dass Menschen für sich gewisse Privilegien und Rechte einfordern. Nach dem Motto: "Wir sind die Opfer, ihr dürft uns nicht schlecht behandeln!"
Rees: "Sie stellen sich selbst als Opfer dar"
Verdrehen sie also, wer Täter und Opfer sind?
Das kann man so sagen. Darüber wird mir auch zu wenig gesprochen: Dass die Menschen, die sich nicht an die Maßnahmen und Einschränkungen halten, diejenigen sind, die andere mutwillig gefährden - also eher Täter und eben nicht Opfer sind. Dadurch, dass sie auf Großveranstaltungen mit Gedränge oder auch einfach in öffentlichen Verkehrsmitteln ohne Masken Ansteckungen in Kauf nehmen, gefährden sie andere, obwohl der Aufwand für sie vertretbar wäre. Während sie selbst rücksichtslos sind, stellen sie sich aber als Opfer dar. Das macht es leichter für sie, Kritik abzuwehren, sie seien ja eigentlich in dem Konflikt die Guten. Das ist ein ziemlich plumper Immunisierungsversuch gegen Kritik.
Zumal wir beispielsweise Anfang September auf der Demonstration in Berlin oder auch im November in Leipzig aggressives Verhalten von Teilnehmern gesehen haben.
Gemeinsam mit der Kollegin Pia Lamberty und anderen haben wir schon vor Corona-Zeiten geforscht, inwiefern Gewaltbereitschaft und Verschwörungsglaube zusammenhängen. Wir haben es ja mit Erzählungen zu tun, die dann besonders anschlussfähig und interessant werden, wenn sie möglichst dramatisch sind. Wir sprachen vorhin über die drei "Zutaten" von erfolgreichen Verschwörungserzählungen. Wenn man diese Erzählungen konsequent aus der Perspektive ihrer Anhängern zu Ende denkt, dann wird klar, warum sie zu Radikalisierung und Gewalt beitragen: Wenn Sie glauben, dass Sie es mit einer übermächtigen Gruppe zu tun haben, die nur Böses im Schilde führt und der Menschheit schaden will, dann ist es in dieser Erzählung nur folgerichtig, dass jedes Mittel recht sein muss - auch Gewalt -, weil der übermächtigen Gruppe anders nicht beizukommen wäre. Gewaltbereitschaft vor dem Hintergrund von Verschwörungserzählungen ist schon immer ein Problem gewesen. Im Zuge von Corona wurde das nochmal deutlicher, Gruppen treten offener auf. Dieser sogenannte Sturm auf den Reichstag, bei dem sehr deutlich wurde, was für ein Aggressionspotential in solchen Gruppen vorhanden ist, hat einmal mehr verdeutlicht, dass diese Erzählungen anschlussfähig sind an rechtsextreme Ideologien.
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