Je länger die Kontaktbeschränkungen gegen das Coronavirus aufrechterhalten werden, desto lauter werden diese kritisiert. Wie drastisch die verhängten Maßnahmen in Deutschland und weiteren 190 Staaten tatsächlich sind, hat nun erstmals ein internationales Forscherteam verglichen.
Kontaktbeschränkung, Mundschutz und Kurzarbeit. Trotz erster zaghafter Lockerungen sind die Folgen der Coronakrise noch immer bundesweit zu spüren. Um die Ausbreitung der durch das Virus verursachten Lungenkrankheit COVID-19 zu verlangsamen, haben Bundesregierung und die 16 Bundesländer seit Mitte März drastische und weitreichende Gegenmaßnahmen beschlossen.
Sie setzten dabei zeitweise unter anderem die Schulpflicht, Gottesdienste und auch die Versammlungsfreiheit aus. Aber ist die Bundesrepublik damit zu einem "Corona-Staat" und einer "Hygiene-Diktatur" mutiert, wie vielfach im Internet geraunt wird?
Wie streng und umfangreich die Corona-Maßnahmen in Deutschland und 190 anderen Staaten sind, hat nun ein internationales und interdisziplinäres Forscherteam erstmals ermittelt. Soviel vorab: Die hiesigen Maßnahmen kamen weder spät, noch sind sie allumfassend, wie ein welt- oder europaweiten Vergleich zeigt.
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Maßnahmen von mehr als 190 Ländern analysiert
Das Team des Projekts CoronaNet hat bisher mehr als 10.000 öffentlich einsehbare Verlautbarungen und Medienberichte mit Reaktionen auf die Corona-Pandemie ausgewertet. Gesammelt hat es diese aus 191 Ländern aus dem Zeitraum vom 31. Dezember 2019 (dem Tag, an dem die ersten Corona-Fälle in Wuhan bekannt wurden) bis zum 18. April. Daraus ist ein umfangreicher Datensatz entstanden, der laufend aktualisiert wird.
Die Ergebnisse ihrer Analyse haben die Forscher am Freitag in einem Arbeitspapier veröffentlicht. "Es liegen intensive Wochen hinter uns", sagt der Politologe Luca Messerschmidt im Gespräch mit unserer Redaktion.
Neben ihm, der wie seine Kollegin Cindy Cheng an der Hochschule für Politik an der TU München forscht, leiten die Politikwissenschaftler Joan Barcelo und Robert Kubinec von der New York University Abu Dhabi sowie Alison Spencer Hartnett von der Yale University das Projekt. Unterstützt werden sie dabei von mehr als 220 Sozialwissenschaftlern, die verstreut über 18 Zeitzonen die Daten zusammentragen.
Wie viel, wie schnell und wie stark reagiert ein Land auf die Pandemie?
"Der Hauptschwerpunkt des CoronaNet-Projekts ist es, so viele Informationen wie möglich über die verschiedenen Maßnahmen zu sammeln, die Regierungen ergreifen, um das Coronavirus einzudämmen", erklärt Messerschmidt.
Zugleich schränkt er aber ein: "Die Daten sind noch nicht zu 100 Prozent verifiziert, es besteht eine Restunsicherheit."
Er und seine Kollegen haben in ihrem nun veröffentlichten Papier insgesamt 16 Faktoren analysiert. Von diesen leiten sie unter anderem ab, wie viel, wie schnell und wie stark ein Land auf die Pandemie reagiert.
So untersucht die Forschergruppe, welche Regierungen auf welchen Ebenen, von landesweit bis kommunal, welche politischen Maßnahmen ergriffen haben. Dazu zählen unter anderem (Ein-)Reiseverbote, Stärkungen des Gesundheitssektors oder Informationskampagnen. Entscheidend ist auch, wie die Maßnahmen durchgesetzt werden und an wen sie sich richten – und ob diese obligatorisch oder freiwillig und ob die Aktionen angekündigt und zeitlich beschränkt sind.
Laut den Forschern haben weltweit von den insgesamt 191 betrachteten Staaten ...
- ... 175 Einreisebeschränkungen an ihren Außengrenzen erlassen.
- ... 153 ihre Schulen geschlossen
- ... 146 Massenversammlungen untersagt.
- ... 143 umfangreiche Quarantäne-Maßnahmen beziehungsweise einen Lockdown beschlossen.
- ... 125 nicht "nicht essentielle" Geschäfte geschlossen oder deren Öffnungszeiten eingeschränkt.
Schweden und Deutschland auf gleichem Niveau
"Deutschland hat relativ früh mit Gegenmaßnahmen angefangen", sagt Messerschmidt. Angefangen habe es mit Grenzschließungen. "Denen folgte eine sehr schnelle und sehr starke Reaktion mit den Geschäftsschließungen und Kontaktbeschränkungen."
In einem von CoroneNet entwickelten Ranking landet Deutschland im Mittelfeld, auf Platz 141. Die Bundesrepublik liegt dabei auf einem vergleichbaren Niveau wie etwa Schweden, das in der Corona-Pandemie einen Sonderweg geht, Japan oder Kanada. Die Ergebnisse des Arbeitspapiers wurden allerdings noch nicht durch eine externe Fachjury (Peer-Review-Verfahren) geprüft und können sich noch ändern.
In diesem sogenannten National Policy Activity Index (Index staatspolitischer Aktivitäten) werden Länder in der Art und Strenge ihrer Maßnahmen beziehungsweise der Stärke der Restriktionen und dem Verhalten der Regierungen über die Zeit bewertet und entsprechend sortiert. Da das Modell zeitliche Trends explizit mit einbezieht, stuft es Staaten, die früh Maßnahmen ergriffen haben, höher ein als solche, die spät und teils drastischer reagierten.
Wichtig: Eine absolute Aussage von im Index nebeneinander stehenden Ländern ist laut den Studienautoren nicht möglich. Aussagekräftig sind deshalb nur Vergleiche zwischen dem oberen, mittleren und unteren Drittel der erfassten Länder, gerade auch mit Blick auf die Corona-Fallzahlen.
Wirksamkeit verschiedener Maßnahmen verstehen
Die zeitliche Darstellung der Rangfolge des National Policy Activity Index zeigt darüber hinaus: Deutschland reagierte genauso früh wie seine Nachbarländer auf das Virus und die damit einhergehenden Gefahren.
In der Strenge und im Umfang der Maßnahmen haben nach Einschätzungen der Forscher bis auf Belgien und Tschechien alle Nachbarstaaten die Bundesrepublik mittlerweile überholt. Hierzulande wurden die Maßnahmen längerfristig angekündigt und auch sukzessive hochgefahren.
Das Ziel von CoronaNet sei es, anderen Forschern zu helfen, die Wirksamkeit verschiedener Maßnahmen verstehen und nachvollziehen zu können, sagt Messerschmidt. "Uns geht es darum, den Datensatz nach vorne zu stellen und andere Wissenschaftler zu eigenen Forschungen anzuregen."
Wie erfolgreich die Maßnahmen in den einzelnen Ländern – ob locker oder streng – sind, wird sich jedoch erst in einigen Monaten, womöglich erst Jahren herausstellen. Im besten Fall reagieren Entscheidungsträger dann bei der nächsten Pandemie besser und zielgerichteter.
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