Die Bundeskanzlerin erhält zurzeit viel Anerkennung für ihren Kurs in der Coronakrise – im Inland wie im Ausland. Dabei birgt ihr aktuelles "Turboregieren" auch Risiken.
Im vergangenen November hat die "New York Times" die deutsche Bundesregierung noch als Zombie-Koalition bezeichnet. Inzwischen ist die renommierte US-Zeitung voll des Lobes, vor allem für Angela Merkel: Die Führungsqualitäten der Kanzlerin hätten dazu beigetragen, dass Deutschland eine vergleichsweise geringe Zahl an COVID-19-Toten habe. Auch Milliardär Bill Gates lobt die Kanzlerin als "klare Stimme" in der Krise – ganz im Gegensatz zu US-Präsident Donald Trump.
Der Politikwissenschaftler Stephan Bröchler von der Humboldt-Universität zu Berlin erklärt im Interview mit unserer Redaktion, warum
Herr Bröchler, warum ist man gerade im Ausland derzeit so begeistert von der Bundeskanzlerin?
Stephan Bröchler: Ich denke, dafür gibt es zwei Gründe. Frau Merkel pflegt einen sehr konsensorientierten Regierungsstil. Dieser Stil verbindet Entschiedenheit mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Momentan bindet die Bundesregierung die Ministerpräsidenten und auch die Opposition in die Willensbildung und Entscheidungsfindung ein. In diesem Regierungsstil unterscheidet sie sich erheblich von anderen Politikern wie
In der Vergangenheit wurde Merkel häufig vorgeworfen, sie würde sich zu wenig positionieren, würde Diskussionen lange laufen lassen, bevor sie sich einschaltet. Ist das jetzt anders?
Es gibt derzeit signifikante Unterschiede zum Regieren in Normalzeiten. Ein wichtiger Anknüpfungspunkt ist die Migrationskrise 2015. Seitdem hat Merkel klar hinzugelernt. Sie hat damals zwar sehr schnell reagiert, hat aber ihre Politik zu wenig erklärt. Jetzt agiert sie als Krisenlotsin und wird als solche auch anerkannt – aber im Gegensatz zu 2015 erläutert und vertritt sie ihre Politik offensiv.
Nicht überall im Ausland ist man derzeit begeistert von Merkel – die Italiener erhoffen sich zum Beispiel mehr Unterstützung gerade von den Deutschen. Setzt die Bundesregierung nicht auch die europäische Einheit aufs Spiel, indem sie so hart bleibt?
Wir haben derzeit eine schwere europäische Krise, weil es den Regierungschef nicht gelingt, eine einheitliche Linie zur Pandemie-Bekämpfung zu definieren. Gerade weil Deutschland eine so starke Ökonomie hat, gibt es da natürlich Begehrlichkeiten anderer Staaten. Aber das ist ein Aushandlungsprozess. Das ist ähnlich wie bei Tarifverhandlungen: Die Parteien starten mit hohen Forderungen, und im Laufe der Verhandlungen einigt man sich auf eine Lösung. Es geht ja um ein hohes Gut – nämlich die Einigkeit der EU.
Innerhalb Deutschlands sind die Zustimmungswerte für Angela Merkel gerade sehr hoch, obwohl sie der Bevölkerung mit dem Lockdown auch sehr viel zumutet. Glauben Sie, dass das so bleibt?
Zustimmung gibt es in starken Demokratien immer nur auf Zeit. Etwa 90 Prozent der Bevölkerung unterstützen derzeit den Kurs von Frau Merkel, die Union erreicht in Meinungsumfragen fast 40 Prozent. Vor einigen Wochen wäre das kaum vorstellbar gewesen. Dieser Kurs ist aber auch mit Risiken behaftet. Momentan wird sozusagen im Turbogang regiert: In kurzer Zeit werden gravierende Entscheidungen getroffen. Dieses Turboregieren ist in hohem Maße fehleranfällig. Gut gewollt ist nicht immer gut gemacht. Ein Problem ist auch: Die Regierung kann noch keine Antwort auf die Frage geben, wann und unter welchen Bedingungen wir wieder zur Normalität zurückkehren. Die Bevölkerung treibt diese Frage sehr stark um – die Regierung kann ihr aber noch keinen Zeithorizont abstecken. Wenn es dabei bleibt, könnte das durchaus ein Kipppunkt bei den Zustimmungswerten sein.
In der vergangenen Woche hat Merkel in der Unionsfraktion darum gebeten, auf "Öffnungsdiskussionsorgien" zu verzichten. Allerdings diskutiert trotzdem das ganze Land über Lockerungen des Lockdowns – gerade ihre eigene Partei. Warum hält sich niemand an ihre Bitte?
Erstens beschäftigt sich die CDU weiterhin mit der Frage, wer der nächste Parteivorsitzende und möglicherweise auch Bundeskanzler wird. Deswegen ist beispielsweise der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet motiviert, sich mit seiner Politik zu profilieren. Die zweite Ursache liegt in unserem föderalen System: Frau Merkel kann nicht einfach durchregieren, kann keine Basta-Politik betreiben und den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten verordnen, wann sie welche Bereiche wieder öffnen oder eben nicht. Das ist der Nachteil des föderalen Systems – aber gleichzeitig auch sein Vorteil: Wir haben in den Bundesländern eben unterschiedliche Bedingungen, auf welche die Landesregierungen entsprechend unterschiedlich reagieren.
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