- Eine Expertenkommission sollte im Rückblick die Corona-Schutzmaßnahmen bewerten.
- Nun haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihren Bericht vorgelegt.
- Darin stellen sie fest: Diese Aufgabe war gar nicht komplett zu erledigen, weil Daten, Zeit und Ausstattung fehlten.
Welche staatlichen Eingriffe während der Corona-Pandemie gingen zu weit? Und welche waren gerechtfertigt und wirksam? Antworten auf diese Fragen sollten 19 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geben. Seinen 160 Seiten dicken Bericht hat der Sachverständigenausschuss jetzt vorgestellt. Doch darin finden sich nur wenige konkrete Urteile über Schutzmaßnahmen. Stattdessen kritisieren die Expertinnen und Experten die Kommunikation und die mangelnde Datenlage in Deutschland während der Pandemie.
Die Aufgabe, die Pandemie-Maßnahmen zu bewerten, habe man gar nicht erfüllen können, heißt es zu Beginn des Berichts: Es gebe in Deutschland zu wenig brauchbare Daten. Zudem waren Zeit und Ausstattung aus Sicht der Kommission nicht ausreichend.
Wirkung von Schulschließungen weiterhin offen
Die Erfüllung des Auftrags sei dadurch "erheblich erschwert" worden, sagte die Virologin und Unternehmerin Helga Rübsamen-Schaeff, stellvertretende Vorsitzende des Gremiums, am Freitag im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. "Mit diesen Einschränkungen muss die Kommission und auch die Gesellschaft umgehen." Wenn die Politik will, dass die Wissenschaft ihr Handeln bewertet, so der Volkswirt Christoph M. Schmidt, "dann muss sie zu Beginn Voraussetzungen dafür schaffen."
Aus Sicht der 19 Expertinnen und Experten hat die Politik das aber versäumt. Einen Verantwortlichen dafür benannten sie nicht. Das machte später am Tag allerdings der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki: Er forderte die Entlassung von Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI).
Kein Urteil über Schulschließungen
Wegen der Datenlage fällt die Kommission zum Beispiel kein Urteil über die Wirkung von Schulschließungen. Die sei weiterhin offen. Ohne Zweifel hätten Schulschließungen aber ungewollte Wirkungen auf das Wohl von Kindern gehabt. Eine genauere Untersuchung soll nach Meinung des Gremiums ein neues Gremium leisten. Für die Soziologin Jutta Allmendinger ist aber bereits klar: "Schulschließungen dürfen nur das letzte aller Mittel sein."
Eher positiv äußern sich die Sachverständigen aber zum Tragen von Masken in Innenräumen – zumindest wenn diese richtig sitzen und es sich nicht um Stoffmasken handelt. "Masken wirken", betonte der Bonner Virologe
Hendrik Streeck: "Lockdowns wirken nur, wenn Menschen mitmachen"
Streeck wies auf ein weiteres Problem hin: Viele Maßnahmen fanden in den vergangenen zwei Jahren gleichzeitig als "Bündel" statt. Daher sei es schwierig, sie einzeln zu bewerten. Die Kontakte zu reduzieren, sei in einer Pandemie generell sinnvoll, sagte Streeck. Ein Lockdown war aus seiner Sicht vor allem in der Frühphase effektiv. "Aber Lockdowns wirken nur, wenn der Mensch mitmacht. Je länger der Lockdown dauert und je weniger Menschen mitmachen, desto geringer ist der Effekt."
Nachholbedarf sieht die Soziologin Jutta Allmendinger auch bei der Krisenkommunikation. Es sei wichtig, über die erhofften Effekte und auch über die möglichen Risiken von Maßnahmen aufzuklären. In der Pflicht sieht sie da die ganze Gesellschaft, auch Krankenkassen, Gewerkschaften oder Sportvereine. "Wir müssen Wissen zu den Menschen bringen und nicht warten, bis sie zu uns kommen und an die Tür klopfen."
Christian Drosten hatte Gremium verlassen
Der Bund hat zwei Expertenkommissionen zur Corona-Pandemie eingesetzt, die nicht zu verwechseln sind. Der Corona-Expertenrat gibt Ratschläge für die zukünftigen Maßnahmen. Der Sachverständigenausschuss hatte dagegen die Aufgabe, in die Vergangenheit zu schauen – und vor allem die Schutzmaßnahmen in der Phase der "epidemischen Lage nationaler Tragweite" zu bewerten.
Dem Ausschuss gehören Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen an, die je zur Hälfte von Bundesregierung und Bundestag ernannt wurden. Um das Gremium hatte es Wirbel gegeben, nachdem der Leiter der Virologie an der Charité Berlin,
Sachverständigenbericht sollte Hinweise für Herbst-Regeln geben
Die Diskussion um die Corona-Politik wird wohl mit der Vorlage des Berichts noch nicht enden – im Gegenteil. Die Regierungsparteien der Ampel-Koalition waren sich bisher nicht einig, welche Schutzmaßnahmen sie für den Herbst und Winter auf den Weg bringen wollen – und wann.
Die jetzt geltenden Maßnahmen des Infektionsschutzgesetzes laufen am 23. September aus. Vor allem die Grünen hatten in den vergangenen Wochen darauf gedrängt, schon vor der Sommerpause des Bundestages neue Regeln auf den Weg zu bringen. Die FDP wollte dagegen auf jeden Fall den Sachverständigenbericht abwarten.
Karl Lauterbach: "Bürger können erwarten, dass wir gut vorbereitet sind"
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bedankte sich am Freitagnachmittag für das Gutachten. Lauterbach sprach von einer Corona-Sommerwelle, die bereits rolle. Die Vorbereitungen für eine Anpassung der Schutzregeln habe er bereits zusammen mit Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) getroffen. "Wir haben heute schon anderthalb Stunden in guter Atmosphäre sehr konstruktiv gearbeitet", sagte Lauterbach. Der Bürger könne "von uns erwarten, dass wir im Herbst gut vorbereitet sind".
Die Bundesregierung brachte am Freitag auch erste Regeln dafür auf den Weg. Das Kabinett billigte einen Entwurf des Gesundheitsministeriums. Damit sollen unter anderem die Grundlagen für weitere Impfungen, genauere Daten und verstärkten Schutz von Risikogruppen in Pflegeeinrichtungen geschaffen werden.
Die Kritik an mangelnden Daten ist aus Sicht von Lauterbach zwar korrekt. "Ich gucke aber nach vorne und nicht nach hinten", sagte er auf einer Pressekonferenz. Die Kritik an Lothar Wieler ist aus seiner Sicht "nicht berechtigt". An einen Rauswurf des RKI-Chefs denkt der Minister offenbar nicht: "Er hat die Arbeit immer gut gemacht und genießt mein vollstes Vertrauen." (Mit Material von dpa)
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