Deutschland gehört zu den reichsten Ländern der Welt. Dennoch beziehen mehr und mehr Menschen das Angebot der Tafeln. Wie passt das zusammen? Und warum findet die Bundesregierung keine Antwort auf das Problem?
Seit die Essener Tafel Ausländern Lebensmittelspenden verweigert, weil der Ansturm zu groß geworden ist, wird über die Tafel-Vereine diskutiert.
Wie kann es sein, dass im reichen Deutschland Woche für Woche Tausende für Brot vom Vortag, Gemüse und Eier Schlange stehen? Eine Übersicht zu den wichtigsten Fragen:
Wie viele Menschen nutzen das Angebot der Tafeln?
Die 60.000 Freiwilligen von der Tafel versorgen deutschlandweit rund 1,5 Millionen Menschen mit Lebensmitteln. In den vergangenen 25 Jahren, seit Gründung der ersten Tafel in Berlin, steigt diese Zahl beständig.
Den größten Zuwachs an Tafeln gab es während und nach der Einführung der Hartz-Gesetze unter der rot-grünen Bundesregierung von
In den zehn Jahren danach kamen nochmal mehr als 250 Tafeln hinzu. Die Zahl der Tafel-Kunden wuchs von 2007 bis 2018 um eine Million Menschen an, darunter sind mittlerweile auch viele nach Deutschland geflohene Menschen.
"Seit 2014 sind zu den Tafeln zusätzlich 280.000 Geflüchtete als neue Tafel-Kundengruppe gekommen", sagt Evelin Schulz, Geschäftsführerin des Dachverbands der Tafeln in Deutschland, im Gespräch mit unserer Redaktion.
Wer holt sich Lebensmittel und andere Spenden von der Tafel?
"Während vor 25 Jahren die Tafeln angetreten sind, um Obdachlosen zu helfen, ist diese Kundengruppe mittlerweile die kleinste", sagt Schulz.
Differenziert nach Alter fällt auf: Je ein Viertel der Spenden-Empfänger stellen Kinder und Jugendliche sowie Senioren - eine jeweils erhebliche Prozentzahl.
"Rentner sind die Gruppe, die am stärksten zunimmt bundesweit", sagt Schulz. Ihre Zahl habe sich in den vergangenen Jahren auf etwa 350.000 verdoppelt. Unter den übrigen 650.000 Tafel-Kunden sind viele Aufstocker und Alleinerziehende.
Die Tafel erklärt auf ihrer Internetseite: "Da Alleinerziehende und Migranten besonders häufig von Armut betroffen sind, fragen sie die Hilfe der Tafeln besonders häufig nach."
Warum nutzen diese Menschen die Tafel?
Eine der Ideen hinter der Tafel ist, gesunde und weiterhin verwertbare Lebensmittel an die Menschen zu bringen. Eine andere, schlechter verdienenden Personen eine Möglichkeit zu geben, Geld zu sparen, ohne große Abstriche bei der Ernährung machen zu müssen.
Der Regelsatz bei einem erwachsenen Alleinstehenden beträgt derzeit 416 Euro - egal ob die Person Hartz-IV-Empfänger oder Rentner in Grundsicherung ist. Hinzu kommen individuelle Zuschüsse wie Wohnkostenhilfen.
"Die Regelsätze sind aus rein fachlicher Sicht zu niedrig. Die für Kinder sind viel zu niedrig", sagt Professor Stefan Sell, Sozialwissenschaftler an der Hochschule Koblenz, im Gespräch mit unserer Redaktion.
Die realen Lebenskosten würden durch das System nicht abgedeckt. Verantwortlich sei das aus seiner Sicht "äußerst kleinkrämerische" Regelbedarfsermittlungsgesetz. "Als Grundlage dienen da die Konsumausgaben der unteren 15 Prozent der Bevölkerung. Davon werden willkürlich noch einmal 25 Prozent abgezogen", sagt Sell.
Auch Rentner, die in ihrem Leben wenig gearbeitet oder wenig verdient haben, kämen mit der Grundsicherung oft nicht aus. "Die OECD hat schon 2015 festgestellt, dass Niedrigverdiener in keinem Rentensystem so schlecht gestellt werden, wie in Deutschland", sagt Sell.
Die Lebensmittelspenden verschaffen manchen Alleinerziehenden oder armen Rentnern mehr Luft im knappen Monatsbudget.
Die Sozial- und Wohlfahrtsverbände prangern seit Jahren an, dass die Regelsätze Möglichkeiten zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nicht ausreichend vorsehen.
Das gilt besonders für ältere Kinder und Jugendliche. Wer in dem Alter bei Kleidung, Technik oder der gemeinsamen Freizeitgestaltung nicht mithalten kann, erfährt schnell Ausgrenzung.
"Durch die Lebensmittel, die die sozial Benachteiligten bei den Tafeln erhalten, können Menschen sich zum Beispiel den Friseurbesuch, ein neues Buch oder ein Kulturerlebnis leisten", sagt Schulz. "Tafeln ermöglichen Menschen gesellschaftliche Teilhabe."
Warum schreckt die Politik vor einer Erhöhung der Hartz-IV-Sätze zurück?
Theoretisch wäre es möglich, die Regelsätze zu erhöhen und eine Grundrente für jeden Rentner unabhängig von den Einzahlungsjahren einzuführen. Das fordern auch die Sozialverbände. So soll etwa der Hartz-IV-Satz um 100 bis 150 Euro steigen.
Eine Anhebung des Existenzminimums würde aber teuer werden, sagt Sozialwissenschaftler Sell: "Der Grundfreibetrag, von dem jeder Steuerzahler profitiert, ist an das Existenzminimum gekoppelt. Wenn man die Regelsätze erhöhen würde, dann stiege auch der Grundfreibetrag und dem Staat gingen Milliarden Steuereinnahmen verloren."
Außerdem würden Sell zufolge Hunderttausende, die derzeit noch knapp über der Hartz-IV-Schwelle liegen, bei einer Erhöhung der Regelsätze zu Aufstockern.
Und auf noch eine Wechselwirkung weist Sell hin: "Der Mindestlohn ist so berechnet, dass ein alleinstehender Vollzeitarbeitnehmer über Hartz IV kommt. Bei einem höheren Regelsatz lohnt sich Arbeit mit Mindestlohn nicht mehr."
Das derzeitige System solle die Menschen zur Arbeit bei niedrigen Löhnen motivieren. Deshalb werde das Leben in Hartz IV so unkomfortabel wie möglich gehalten.
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