Die Volksparteien haben viel Vertrauen eingebüßt. Das hat auch das Wahlergebnis in Bayern wieder gezeigt. Wird nicht endlich gegengesteuert, befürchten führende Experten weitreichende Folgen für die deutsche Politik. Ein Lösungsansatz: mehr direkte Demokratie und damit mehr Bürgerbeteiligung nach dem Vorbild der Schweiz. Was spricht dafür und was dagegen?
Das Vertrauen in CDU, CSU und SPD schmilzt. Viele Bürger glauben nicht mehr daran, dass die Parteien wirklich noch ihre Interessen vertreten. Experten sehen einen Niedergang der Volksparteien.
Um dem Vertrauensverlust entgegenzuwirken, wird die direkte Demokratie als Lösungsvorschlag diskutiert. Die Idee dahinter: Wenn die Bürger unzufrieden mit der Arbeit ihrer Repräsentanten sind, warum sie dann nicht mitentscheiden lassen? Bereits zur letzten Bundestagswahl forderten CSU, Linke und Grüne in ihren Wahlprogrammen bundesweite Volksabstimmungen.
Befürworter möchten solche Plebiszite nach Schweizer Vorbild durchsetzen. Die Eidgenossen praktizieren die direkte Demokratie seit mehr als 100 Jahren auf lokaler, kantonaler und nationaler Ebene sehr erfolgreich. Dafür gibt es verschieden Formen von Volksabstimmungen. Die wichtigsten sind:
- Das obligatorische Referendum: Bürger müssen über jede Verfassungsänderung abstimmen.
- Das fakultative Referendum: Dieses lässt sich als Veto-Recht der Bürger beschreiben. Stimmt das Wahlvolk nicht mit einem neu erlassenen oder einem abgeänderten Gesetz überein, kann es selbiges zur Abstimmung stellen. Voraussetzung dafür sind 50.000 gesammelte Unterschriften innerhalb von 100 Tagen nach der Publikation des Gesetzes.
- Die Volksinitiative: Wünschen sich Bürger selbst eine Verfassungsänderung, können sie diese mittels der Volksinitiative zur Abstimmung bringen. Dazu müssen innerhalb von 18 Monaten 100.000 Unterschriften zusammengetragen werden.
Doch lassen sich die direktdemokratischen Strukturen der Schweiz auf Deutschland übertragen? Wo lägen die Vor- und wo die Nachteile? Über diese Fragen wurde im Rahmen einer Expertentagung der Hanns-Seidel-Stiftung in München diskutiert.
Volkswillen als politisches Tagesgeschäft
Politikwissenschaftler Claude Longchamp, ein Verfechter der direkten Demokratie, ist davon überzeugt, dass die deutsche Politik davon profitieren würde. 30 Jahre hat er Wahlen und Volksabstimmungen in der Schweiz analysiert.
"Weltweit ist eine Zunahme einer Partizipationskultur zu beobachten", so Longchamp. "Die Menschen sind nicht mehr einfach nur zufrieden, wenn die wirtschaftliche Leistung des Systems stimmt (…), sondern sie wollen sich einbringen." Das Schweizer Modell würde dem Rechnung tragen und könnte demokratischen Erosionsprozessen entgegenwirken.
Außerdem könne das Modell der direkten Demokratie auch indirekt Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen: Politische Akteure wären gezwungen, den Willen des Volkes vorherzusehen und diesen schon im Voraus zu berücksichtigen.
Die wichtigste Konsequenz von direkter Demokratie sei, "dass weder die Regierung noch die Parlamente in der Schweiz Volksabstimmungen verlieren wollen", erklärt der Experte.
Diese "Rückkopplung" politischer Akteure an ihre Wahlbevölkerung könne auch dem Vertrauensverlust, der momentan in Deutschland diskutiert wird, entgegenwirken. Denn würde das politische System entsprechend verändert, müssten alle Parteien besser zusammenarbeiten.
Außerdem würde der Bereich an Themen erweitert und die Akzeptanz von politischen Entscheidungen erhöht. Oppositionsparteien, die lautstark "Wir sind das Volk" riefen, würden durch direkte Demokratie gezähmt.
Nachteile der direkten Demokratie
Das Schweizer System habe allerdings auch Nachteile. Abstimmungen etwa können oft einen jahrelangen Vorlauf haben. So dauerte eine Debatte über eine Reform des Schweizer Rentensystems ganze drei Jahre.
Auch, dass sich Parteien selbst des Instruments der Volksabstimmung bemächtigen können, sieht der Experte kritisch. Denkbar wäre die Entwicklung autoritärer Tendenzen.
Außerdem könne die hohe Anzahl an anstehenden Entscheidungen und eine Informationsflut zu einer "gelegentlichen Überforderung von Stimmbürgern" führen.
Kritiker befürchten zudem, dass gesellschaftliche Konflikte stärker populistisch aufgeladen und Ressentiments geschürt werden. Diesen Einwurf wies Longchamp zwar nicht zurück, doch er betonte: "Wir haben (in der Schweiz) tiefe gesellschaftliche Spaltungen, aber wir haben gelernt damit umzugehen."
Trotz möglicher Nachteile ist Longchamp überzeugt, dass Deutschland vom Schweizer Modell profitieren könnte. Allerdings wäre die sofortige Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene ein Fehler. "Ich glaube, da braucht es Lernprozesse", so der Experte. Auch in der Schweiz sei die direkte Demokratie schrittweise eingeführt worden. "Das halte ich auch für Deutschland für richtig. Außer, dass die Schritte (Anm.d.Red.: im Vergleich zur Schweiz) etwas schneller gehen könnten".
Deutsche Experten halten Modell für nicht übertragbar
Nicht jeder der Anwesenden sieht die direkte Demokratie als Lösung. So betonte Professorin Ursula Münch, dass sich das Schweizer Modell nicht einfach auf die Bundesrepublik ummünzen lasse.
Beide Systeme hätten "wenig miteinander gemeinsam", so die Leiterin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Beispielsweise hätten die Parteien bei den Eidgenossen eine "völlig andere Funktion". Auch das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung sei unterschiedlich. Eine dauerhafte "Koalition mit dem Bürger", hält die Politikwissenschaftlerin deshalb nicht für sinnvoll.
Professor Frank Decker, Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie an der Universität Bonn, sieht das ähnlich. Mit Volksabstimmungen habe man in Deutschland "auf der Länderebene schon Probleme".
Vetorechte durch die Bevölkerung seien nur schwer mit dem deutschen System vereinbar. Das führe dazu, dass man diesbezügliche Instrumente wie den Volksentscheid entschärfe. Denn im Unterschied zur Schweiz seien die Hürden für solche Abstimmungen hoch. Sie seien äußerst begrenzt anwendbar, das zeige die Praxis.
Auf Landesebene und in den Kommunen können Bürger bereits mittels Volksbegehren und Volksentscheid Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen. Doch laut Länderverfassungen darf nicht über alles abgestimmt werden. Deutlich werde das Decker zufolge am Beispiel Berlin.
Dort hatten die Bürger für die Weiternutzung des Flughafen Tegel gestimmt. Der Senat allerdings sieht dafür keine rechtliche Grundlage. Die rechtlichen, betriebswirtschaftlichen, finanziellen und stadtentwicklungspolitischen Folgen sprächen dagegen, hieß es in einer Mitteilung der Senatskanzlei.
"Damit wird nicht nur die Parteiendemokratie weiter delegitimiert, sondern auch die direkte Demokratie selbst. Warum soll sich jemand an einem Verfahren beteiligen, wenn er sich am Ende nicht darauf verlassen kann, dass das dann auch gilt?", fragt Decker. Anders ausgedrückt: Man mache Demokratieversprechen, die man letzten Endes gar nicht einlösen könne.
Auch der ehemalige Präsident des bayerischen Landtags, Alois Glück, ist skeptisch. "Wenn Parlamentsmehrheiten falsch entscheiden, dann kann ich sie bei der nächsten Wahl zur Rechenschaft ziehen", so der CSU-Politiker. Volksentscheide würden hingegen dafür sorgen, dass die Verantwortlichkeit für politische Entschlüsse nicht mehr klar erkennbar sei.
Die "Koalition mit den Bürgern begünstigt schon eine populistische Politikstruktur", so Glück und für die Zukunft wichtige Entscheidungen seien "selten populär". Der Großteil der Gesellschaft würde sich dem Politiker zufolge hauptsächlich für den gegenwärtigen Nutzen einer politischen Entscheidung interessieren.
Verwendete Quellen:
- Expertentagung der Hans-Seidel-Stiftung: "Direkte Demokratie auf dem Prüfstand"
- Aus Politik und Zeitgeschichte Ausgabe 10/2006: "Direkte Demokratie"
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