Ist die Türkei auf dem Weg, ein autoritäres "Mini-Pakistan" zu werden, wie der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir befürchtet? Die anhaltende Kritik an Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan lässt keine Zweifel an dessen angeblicher Demokratiefeindlichkeit. Aber von einer Diktatur kann keine Rede sein.
"Um Erdogan gerecht zu werden, muss man sich anschauen, wie er sich seit 2002 entwickelt hat", sagt Oliver Ernst, Türkeiexperte der Konrad-Adenauer-Stiftung. Damals kam die von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan mitgegründete islamisch-konservative Regierungspartei AKP erstmals an die Macht. "Dass sich die Türkei in den letzten Jahren politisch stabilisiert und wirtschaftlich gut entwickelt hat, liegt auch an der AKP", sagt Ernst.
Sogar in der viel thematisierten Kurdenfrage habe sich einiges zum Besseren gewendet, sagt Ernst, der sich insbesondere mit der Menschenrechtspolitik in der Türkei beschäftigt. "Die Kurden können insgesamt freier und gleichberechtigter ihre Interessen vertreten als das noch vor Jahren der Fall war."
Tatsächlich sind etwa zu den Präsidentschaftswahlen vergangenes Jahr auch kurdische Politiker wie der Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, zugelassen worden. Kemal Kilicdaroglu, kurdisch-alevitischer Führer der größten Oppositonspartei CHP, kann offen Kritik an Erdogan äußern. Mit anderen Worten: Wer sich nicht explizit zur kurdischen Arbeiterpartei PKK bekennt, muss als Kurde keine Verfolgung mehr fürchten.
Überhaupt: Bei der vergangenen Präsidentschaftswahl im August 2014 waren zum ersten Mal die Bürger aufgerufen, ihr Staatsoberhaupt direkt zu wählen. Mehr als die Hälfte der Türken hat sich für weitere fünf Jahre Erdogan entschieden. Bei den Parlamentswahlen gab es dagegen eine Schlappe für die AKP, die mit 41 Prozent ihr bislang schlechtestes Ergebnis kassiert hat. Für Ernst sind das durchaus Indizien für demokratische Verhältnisse.
Erdogans System fördert Selbstzensur
Doch Ernst weiß auch, dass es genug Grund gibt, Erdogan zu hinterfragen; etwa im Umgang mit den Medien. "Auch wenn offizielle Pressefreiheit herrscht, das derzeitige System fördert die Selbstzensur von Journalisten", sagt Ernst. "Wie die Medien unter Druck gesetzt werden, ist inakzeptabel."
Offensichtlich ist Erdogan jedoch nicht nur kritische, sondern ganz allgemein unabhängige Berichterstattung ein Dorn im Auge. Twitter bezeichnete er als "großes Übel", das zum Rufmord gegen die Regierung genutzt würde. Youtube sollte auf Geheiß der türkischen Regierung unangenehme Videos löschen. Weil sich der Youtube-Betreiber Google aber weigerte, wurde die Seite in der Türkei zwischenzeitlich gesperrt.
CHP-Chef Kilicdaroglu sagte in einem Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit": "Erdogan tut so, als sei der Bürgermeister sein Bürgermeister, der Direktor sein Direktor, der Arzt sein Arzt. Alles untersteht ihm, denkt er." Deshalb, so Kilicdaroglu, rufe Erdogan auch einfach bei einem Fernsehsender an, um anzuordnen, was gesendet werden soll. Erdogans Politikstil widerspreche damit der in der Verfassung verankerten Neutralität des Staatspräsidenten.
Diktatur mit demokratischen Mitteln?
Eine lebendige zivilgesellschaftliche Opposition, wie sie bei der Gezi-Protestwelle 2013 zu sehen war, ist in der Türkei möglich, aber nicht erwünscht. Für Erdogan kommen Demonstrationen Chaos gleich, das es zu verhindern gilt. "Andererseits weiß er, dass die Mehrheit seit den Parlamentswahlen nicht mehr hinter ihm steht", erklärt Ernst.
Trotzdem scheint Erdogan nichts unversucht zu lassen, eine "neue Türkei" nach seinen Vorstellungen zu errichten. Während der Präsidentschaftswahlen malte er das Bild einer prosperierenden Weltmacht, die all ihre Gegner vernichten werde. Dass dabei die Terrormiliz Islamischer Staat mit der als Terrororganisation gebrandmarkten PKK auf eine Stufe gestellt wird, ist für den 61-Jährigen selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich, wie im Kampf gegen beide internationale Unterstützung zu erhalten.
So oft Erdogan auch von der "nationalen Einheit und Integrität" spricht, die er um jeden Preis bewahren will, so häufig lässt sein innenpolitisches Handeln kaum einen anderen Schluss zu, als dass er mit dem Stempel "diktatorisch" offenbar gut leben kann. Wie lange hingegen das türkische Volk sich mit dieser Situation noch arrangieren kann, ist fragwürdig.
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