• Die erzwungene Zwischenlandung einer Ryanair-Maschine gilt in der Luftfahrtgeschichte als beispiellos.
  • In den sozialen Medien, von einzelnen Bundestagsabgeordneten und von Russland wird seit einigen Tagen allerdings eine alternative Version kommuniziert. Was ist da dran?
Eine Analyse

Mehr Panoramathemen finden Sie hier

Mehr aktuelle News

Die erzwungene Landung einer Ryanair-Maschine in Minsk gilt als beispielloser Eingriff in den zivilen Luftverkehr. Zwischenlandungen oder Bombendrohungen an Bord – das hatte es zwar in der Vergangenheit auch schon gegeben. Einen Fall, in dem ein ziviles Flugzeug mit militärischer Gewalt und einer offenbar fingierten Bombendrohung zum Zwischenstopp gezwungen wird, um am Boden einen unbequemen Regimegegner festzunehmen, so etwas kannte die Luftfahrtgeschichte jedoch bislang nicht.

Die Reaktionen des Westens fielen entsprechend hart aus. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) kündigte eine harte Antwort der EU an und Außenminister Heiko Maas (SPD) drohte gar mit "einer großen und langen Spirale von Sanktionen". Tatsächlich reagierte die EU auf das belarussische Verhalten überraschend hart. Europäische Fluglinien sind dazu angehalten, den belarussischen Luftraum zu meiden, dafür nehmen sie mitunter beträchtliche Umwege in Kauf. Zudem sollen auch belarussische Fluglinien in naher Zukunft keine europäischen Flughäfen mehr ansteuern dürfen. Eine Maschine der staatlichen Airline Belavia mit Ziel Barcelona musste am vergangenen Mittwoch deshalb vor der polnischen Grenze umkehren.

Europa reagiert hart

Die EU will eine staatlich orchestrierte Entführung eines innereuropäischen Linienfluges kein zweites Mal erleben. Für Europa, das auf seine Werte stets große Stücke hält, käme es einer Blamage gleich, wenn sich Regimegegner in Europa bei Flügen nicht mehr sicher fühlen könnten vor Personen, die sich mehrere zehntausende Fuß unter ihnen befinden. Für Despoten in anderen Ländern, so die Sorge, könnte Gleichgültigkeit so etwas wie eine Einladung sein, Flugzeugentführungen als abschreckendes Signal an Regimegegner zu nutzen.

In den sozialen Medien, in Russland und sogar im Deutschen Bundestag sind mit der harten Reaktion aber nicht alle glücklich. Kritiker verweisen auf einen anderen Vorfall am Himmel, der sich im Jahr 2013 zugetragen hat und bei dem die EU geschwiegen habe. Der russische Außenminister Sergej Lawrow etwa führt diesen Fall als Beleg dafür an, dass der Westen nun in Sachen Weißrussland "heuchlerisch" agiere. Ähnlich argumentierten beispielsweise Gregor Gysi, der außenpolitische Sprecher der Linksfraktion, oder sein Parteikollege Andrej Hunko.

Konkret geht es bei dem Vorwurf um einen Flug des ehemaligen Staatspräsidenten Boliviens, Evo Morales, dessen Maschine 2013 auf dem Rückflug aus Moskau einen unplanmäßigen Zwischenstopp in Wien einlegen musste. Zuvor hatten Frankreich und Spanien ihre Lufträume für das Flugzeug gesperrt, weil Gerüchte die Runde gemacht hatten, dass der Whistleblower Edward Snowden an Bord sei. Snowden war zu diesem Zeitpunkt von den USA per Haftbefehl gesucht worden und hatte in Bolivien um Asyl gebeten, hielt sich aber zum gleichen Zeitpunkt im Transitbereich eines Moskauer Flughafens auf. Drei Stunden nach dem Zwischenstopp konnten Morales und seine Entourage mit vollgetanktem Flugzeug nach La Paz weiterfliegen.

Fall Morales: Europäische Politiker hielten sich zurück

Auf den ersten Blick gibt es Parallelen. In beiden Fällen wurden Flugzeuge von Staaten zur Landung gezwungen, in beiden Fällen waren die Gründe hauptsächlich politischer Natur. Dazu kommt: Westliche Politiker hielten sich damals tatsächlich vornehm zurück. Obwohl in Bolivien und Südamerika der Vorwurf erhoben wurde, dass durch die kurzfristige Kettensperrung mehrerer nationaler Lufträume der Absturz des Morales-Fliegers billigend in Kauf genommen worden sei, äußerte sich in Europa kaum jemand von Rang und Namen zu dem Thema. Einzig die UNO kritisierte den Vorfall, was jedoch außer Verlautbarungen keine Konsequenzen nach sich zog.

Letzteres mag unfair sein, doch identisch sind die beiden Fälle nicht. Zum einen gelten am Himmel für zivile und staatliche Flüge unterschiedliche Regeln. So legt das Chicagoer Abkommen, das den zivilen internationalen Luftverkehr regelt, fest, dass zivile Passagiermaschinen grundsätzlich das Recht haben, den Luftraum anderer Mitgliedstaaten zu überfliegen.

Das Abkommen ist von rund 200 Staaten ratifiziert worden, auch von Belarus. Nur in Ausnahmefällen darf ein Land verlangen, dass ein Flugzeug in seinem Luftraum außerplanmäßig zwischenlandet, zum Beispiel, wenn die Maschine für illegalen Drogenschmuggel genutzt wird oder ungenehmigte gefährliche Güter transportiert.

Bei militärischen und staatlichen Flugzeugen ist die rechtliche Lage anders

Anders sieht es bei militärischen und staatlichen Flugzeugen aus, darunter Präsidentenmaschinen: Diese müssen vor jedem Überflug eine Genehmigung einholen, welche in der Praxis immer mal wieder versagt wird. Wenn Staaten miteinander im Disput sind, ist die Nichtgenehmigung staatlicher Überflüge sogar ein bewährtes Mittel, um den jeweils anderen Staat zu provozieren.

Juristen streiten allerdings bis heute darüber, in welche Kategorie Morales‘ Flug 2013 fiel. Denn der Präsident reiste nicht in seiner offiziellen Präsidentenmaschine, sondern in einem privaten, gecharterten Jet.

"Wenn man der engen Auslegung folgt, dass eine Landung eines Zivilflugzeuges nur bei einem illegalen Einflug erzwungen werden darf, dann wäre auch im Fall Morales gegen Gesetze verstoßen worden", erklärt Matthias Hartwig, Jurist am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. "Ist man hingegen der Auffassung, dass ein Zivilflugzeug nicht zum Transport einer Person verwendet werden darf, gegen die ein internationaler Haftbefehl besteht (Snowden), könnte die erzwungene Landung rechtmäßig gewesen sein."

Eindeutiger sehe es da im Fall der Ryanair-Maschine aus: "Die Regierung von Belarus hat als Rechtfertigung für die Landeerzwingung angegeben, dass eine Bombendrohung bestand. Nach dem derzeitigen Wissensstand war diese Drohung allerdings von der Regierung selbst fabriziert worden: Das ist ganz sicher nicht mit den Regeln der ICAO vereinbar."

Dazu komme, dass eine Landeerzwingung auch verhältnismäßig sein müsse, also die Gefahren nicht größer sein dürften als der Nutzen. "Ob diese Proportionalität in dem Fall gewahrt war, erscheint mir mehr als zweifelhaft."

Massiver Druck auf die Ryanair-Crew

Fest steht, dass auf die Piloten von Ryanair-Flug 4978 - anders als im Fall Morales - massiver Druck ausgeübt wurde. Das belegen zum Beispiel die erst kürzlich bekannt gewordenen Transkripte des Funkverkehrs, in denen nachzulesen ist, wie die Flugsicherung die perplexen Piloten zur Landung in Minsk drängte, obwohl sich das Flugzeug bereits mehrere hundert Kilometer näher am Zielort Vilnius befand.

Zudem wurde die mit mehr als 170 Menschen besetzte Boeing von einem Kampfjet Typ MiG-29 eskortiert. Unter diesen Umständen hatten die Piloten kaum eine andere Wahl als in Minsk zu landen. Im Fall Morales sah das anders aus. Die Piloten entschieden sich damals freiwillig zur Landung in Wien, weil sie tanken wollten.

Warum also werden beide Fälle im Internet gleichgesetzt? Auffällig ist, dass es insbesondere Journalisten des russischen Propagandasenders Russia Today sind, die eine angebliche Doppelmoral des Westens durch den Fall Morales belegt sehen wollen und diese Meinung aggressiv teilen.

Lesen Sie auch:

Ein ähnliches Verhalten ist auch aus anderen Kontexten bekannt, etwa dem Syrien-Krieg oder der Ukraine. Häufig tauchen dann, wenn Russland oder mit Russland befreundete Staaten international in der Kritik stehen, rhetorische Ablenkmanöver auf, die jede Kritik relativieren sollen, mit Verweis auf ähnliche Vorkommnisse. Beate Apelt, Leiterin der Friedrich Naumann Stiftung Kiew, rät deshalb zu Vorsicht: "Die Diskussion um die Morales-Maschine soll offensichtlich dazu dienen, uns vor den Karren der russischen Propaganda zu spannen, darauf sollten wir nicht hereinfallen."

Verwendete Quellen:

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.