Bereits seit Jahren streiten die EU-Staaten über eine Reform der europäischen Asyl- und Migrationspolitik. Die EU-Kommission hat nun einen neuen Reformvorschlag vorgelegt. Es ist offen, ob damit die Blockade gelöst werden kann.
Angesichts der Coronakrise schien der Dauerstreit um eine Reform des EU-Asylsystems fast vergessen. Doch der verheerende Brand im griechischen Flüchtlingscamp Moria hat das Thema nicht nur in Berlin, Wien und anderen europäischen Hauptstädten, sondern auch in Brüssel wieder ganz nach oben auf die Prioritätenliste gesetzt.
"Das alte System (...) funktioniert nicht mehr", sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch in der belgischen Hauptstadt. "Europa muss von Ad-hoc-Lösungen wegkommen und ein berechenbares und verlässliches System für das Management von Migration einführen."
Zugleich bat die CDU-Politikerin die Regierungen der EU-Staaten um Unterstützung für ihr Reformvorhaben der europäischen Asyl- und Migrationspolitik. Der neue Vorschlag der EU-Kommission soll die schon seit Jahren bestehende Blockade endlich lösen. Er muss aber noch sowohl mit den EU-Staaten als auch dem Europaparlament verhandelt werden.
Wie sehen die Pläne der EU-Kommission aus?
Bei dem am Mittwoch in Brüssel präsentierten Vorschlag lassen sich sechs Themenkomplexe ausmachen. Die Pläne sehen unter anderem vor, Länder wie Griechenland und Italien vor allem mit einer starken Unterstützung bei der Rückführung von Menschen ohne Bleiberecht zu entlasten.
Zur Aufnahme von Migranten sollen Länder wie Ungarn und Polen demnach nur in absoluten Ausnahmefällen verpflichtet werden. Ein weiterer Schwerpunkt der neuen Vorschläge liegt auf Maßnahmen für eine effiziente Abschiebung abgelehnter Asylbewerber. Zugleich will die EU-Kommission, dass alle EU-Staaten einen Beitrag zur gemeinsamen Migrationspolitik leisten, er kann aber auch über personelle oder finanzielle Unterstützung erfolgen.
Alle Punkte im Detail:
1. Verpflichtende Solidarität in Ausnahmesituationen
Das Konzept der EU-Kommission sieht ein dreistufiges Verfahren vor. In normalen Zeiten können die EU-Staaten einander freiwillig helfen. Gerät ein Land unter Druck, kann es jedoch einen sogenannten Mechanismus für verpflichtende Solidarität auslösen. Die EU-Kommission würde in diesem Fall prüfen, wie viele Menschen dem Land abgenommen werden müssen – jedes andere Land müsste Hilfe anbieten: Entweder nimmt es Migranten mit Aussicht auf einen Schutzstatus auf. Oder aber es hilft anderweitig, etwa durch Abschiebungen oder beim Migrationsmanagement.
Spitzt sich die Situation weiter zu, und es tritt eine Krise wie 2015 ein, greift ein Krisen-Mechanismus. Dann wird die Auswahl der Hilfsmöglichkeiten geringer: Entweder werden Migranten – auch solche ohne Aussicht auf einen Schutzstatus – aufgenommen oder die Abschiebung einer bestimmten Anzahl abgelehnter Asylbewerber wird übernommen. Diese Abschiebung muss innerhalb von acht Monaten erfolgen. Gelingt das nicht, muss das Land sie selbst aufnehmen.
2. Umfangreichere Überprüfungen an den Landesgrenzen
Bevor ein Migrant ins Land kommt, soll der betroffene Staat nach Vorstellung der EU-Kommission künftig an der Grenze eine Vorüberprüfung vornehmen, die deutlich umfangreicher als bisherige Prüfungen ist: Der Migrant wird registriert, Fingerabdrücke werden genommen, Gesundheits- und Sicherheitschecks durchgeführt. Kommt der Asylbewerber aus einem Land mit geringerer Anerkennungsrate – Tunesien oder Marokko etwa – soll innerhalb von zwölf Wochen ein Grenzverfahren durchgeführt werden.
Dies soll sowohl Schmuggler als auch die Menschen selbst abschrecken, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Gelingt das Verfahren nicht innerhalb von zwölf Wochen, müsste ein normales Asylverfahren durchgeführt werden. "Ich möchte, dass wir schnelle Entscheidungen und schnelle Rückführungen haben", sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson. Zugleich müsse das Recht auf Asyl verteidigt werden.
3. Dublin-Regeln
An den derzeit gültigen Dublin-Regeln hält die EU-Kommission grundsätzlich fest. Demnach ist meist jener EU-Staat für einen Asylantrag zuständig, auf dessen Boden der Schutzsuchende zuerst europäischen Boden betreten hat.
Bestimmte Menschen sollen allerdings schon zuvor auf andere EU-Staaten verteilt werden – etwa, wenn sie dort Geschwister haben oder dort in der Vergangenheit studiert oder gearbeitet haben. Gleiches gilt, wenn der Asylbewerber zuvor legal mit einem Visum in ein EU-Land gereist ist. Dann soll der Staat zuständig sein, der das Visum ausgestellt hat.
Dies soll die sogenannte sekundäre Migration verhindern, also das Weiterziehen von einem EU-Land in das nächste. Griechenland und andere Südstaaten hatten mehrfach die Abkehr vom Dublin-System gefordert. Es werde Enttäuschungen in allen EU-Staaten geben, sagte Johansson. "Es gibt keine perfekte Lösung. Es geht darum, eine ausgewogene Lösung zu finden."
4. Schnellere Abschiebungen und stärkerer Schutz der EU-Außengrenze
Zum einen soll es nach Vorstellung der EU-Kommission die sogenannten Abschiebe-Patenschaften geben. Wenn ein Land in Krisensituationen keine Migranten aus einem anderen EU-Staat aufnehmen will, kann es also die Abschiebung einer bestimmten Anzahl nicht Schutzberechtigter übernehmen.
Die EU-Kommission will Rückführungen aber auch anders beschleunigen. Als Hebel soll auch die Visum-Politik der EU eingesetzt werden. Zudem soll ein "EU-Koordinator für Rückführungen" ernannt werden, der mit Fachleuten der EU-Staaten zusammenarbeitet. Auch der Außengrenzschutz solle verbessert werden. Die EU-Kommission sieht eine stärkere Rolle für die Grenzschutzagentur Frontex vor.
5. Pflicht zur Seenotrettung
Die Rettung von in Seenot geratenen Migranten ist nach Ansicht der EU-Kommission eine Pflicht. Die EU-Kommission will nun, dass der "Mechanismus für verpflichtende Solidarität" auch hier Anwendung findet. Entweder die EU-Länder nehmen Gerettete auf, oder sie helfen anderweitig - etwa bei der Abschiebung.
6. Zusammenarbeit mit Drittstaaten
Die EU soll nach Ansicht der EU-Kommission an Abkommen mit anderen Ländern arbeiten, die beiden Seiten helfen. Dadurch solle etwa Menschenschmuggel bekämpft werden, aber auch legale Wege in die EU sollten geschaffen werden. Um passende Arbeitskräfte zu finden, sollten Talent-Partnerschaften mit Nicht-EU-Ländern gestartet werden. Zudem plant die Behörde einen Plan für Integration und Inklusion.
Wie erfolgversprechend ist der Vorstoß?
Ob der Plan der EU-Kommission eine Chance auf Umsetzung hat, ist völlig offen. Ähnliche Versuche waren in den vergangenen Jahren stets gescheitert.
Die EU-Staaten streiten seit Jahren über die gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik. Knackpunkt war stets die verpflichtende Verteilung Schutzsuchender auf alle EU-Staaten.
Die bestehenden Dublin-Regeln belastet vor allem Länder an den südlichen EU-Außengrenzen wie Griechenland oder Italien. Sie fordern schon lange mehr Unterstützung und eine verpflichtende Verteilung der Migranten auf die anderen Länder. Auf der anderen Seite lehnen Staaten wie Österreich, Ungarn, Tschechien und Polen eine verpflichtende Aufnahme kategorisch ab.
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen appellierte deshalb an die EU-Staaten, das Konzept als Basis für einen neuen Anlauf für eine Einigung zu nehmen. "Es ist an der Zeit, sich der Herausforderung zu stellen, Migration gemeinsam zu gestalten – mit der richtigen Balance von Solidarität und Verantwortung", sagte sie.
Die Pläne gehen nun an die Mitgliedstaaten und das Europaparlament. Die Kommission forderte beide Seiten angesichts der "Dringlichkeit der Situation vor Ort in mehreren Mitgliedstaaten" auf, sich "bis zum Jahresende" auf die "Grundprinzipien" der Reform zu einigen.
Joko & Klaas: A Short Story of Moria
Was sagen Menschenrechtler und Flüchtlingshelfer zu dem Reformvorhaben?
Das Deutsche Menschenrechtsinstitut sieht die Vorschläge der EU-Kommission sehr kritisch. Die Idee, Menschen in geschlossenen Aufnahmezentren an den EU-Außengrenzen einer Asyl-Vorprüfung zu unterziehen und – wenn die Prüfung negativ ausfällt – direkt von dort ihre Abschiebung zu betreiben, sei falsch, erklärte das Institut.
Die Organisation von Rückführungen sei häufig langwierig – vielfach aus Gründen, die die Betroffenen nicht selbst zu verantworten hätten. Stattdessen sollten neu ankommende Schutzsuchende vielmehr noch vor der Asylprüfung möglichst schnell von den Außengrenzen aus innerhalb der EU verteilt werden.
Der Geschäftsführer von Pro Asyl, Günter Burkhardt, sagte, die Vorschläge aus Brüssel seien "ein teuflischer Pakt der Entrechtung". Von Rechtspopulisten getrieben, verrate die EU-Kommission das Asylrecht und die Menschenrechte von Schutzsuchenden.
Kritisch sieht die Organisation auch die Idee, dass EU-Staaten, die zur Aufnahme von Asylsuchenden aus den Zentren an den EU-Außengrenzen nicht bereit sind, stattdessen an der Abschiebung von Menschen ohne Chance auf Asyl mitwirken sollen, erklärte Burkhardt.
Solche "Abschiebepatenschaften" durch andere nichtaufnahmewillige EU-Staaten seien für Schutzsuchende bedrohlich. In Lagern mit freiheitsbeschränkenden Bedingungen sei kein effektiver Rechtsschutz möglich. (dpa/mf)
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