Im Vergleich zu den USA und Russland wirken die Europäer machtlos, wenn es um die Bewältigung von internationalen Krisen geht. Woran liegt das?
Syrien, Libyen, Ukraine, der Nahe Osten: Es "brennt" an vielen Stellen in der unmittelbaren Nachbarschaft Europas. Staaten wie Deutschland und Frankreich, aber auch die Europäische Union als Ganzes versuchen, Brücken zu bauen und zu vermitteln. Die wirklich wichtigen Entscheidungen treffen auf der Weltbühne aber andere Akteure.
Im Interview mit unserer Redaktion erklärt Carolin Rüger, Politikwissenschaftlerin an der Universität Würzburg, warum Europa außenpolitisch wie ein Leichtgewicht wirkt – und wie es trotzdem Einfluss nehmen kann.
"Europa ist eher Zaungast als Akteur"
Frau Rüger, täuscht der Eindruck, dass Europa bei den aktuellen internationalen Krisen eher Zuschauer als mächtiger Akteur ist?
Carolin Rüger: Ich denke, das stimmt. Die Europäische Union hat einerseits einen großen Anspruch: Die neue EU-Kommission will ausdrücklich eine geopolitische Kommission sein, um das Gewicht und die Handlungsfähigkeit Europas in der Welt zu stärken.
In der Realität geben aber weiterhin die einzelnen Staaten in der Außen- und Sicherheitspolitik den Ton an. Im Falle von Libyen zum Beispiel verfolgen Italien und Frankreich ganz unterschiedliche Ziele: Italien unterstützt die Tripolis-Regierung unter al-Sarraj, Frankreich steht inoffiziell eher auf der Seite des Generals Haftar.
Da fällt es schwer, eine gemeinsame Linie zu finden. Die EU ist in den internationalen Krisen sicherlich eher Zaungast als Akteur. Zu ihrer Verteidigung: Auch andere Akteure sind in dieser Zeit häufig ratlos.
Ist es für Staaten wie Deutschland oder Frankreich überhaupt sinnvoll, sich auf EU-Ebene abzusprechen und gemeinsam als "Europa" aufzutreten?
Auf jeden Fall. Die EU ist immer auch ein Verstärker des eigenen Einflusses. Auf der Weltbühne sind China, Indien, Brasilien, die USA und weitere große Akteure aktiv. Wo stehen da Litauen, Italien oder Deutschland?
Wir können nur eine Chance haben, die Welt in unserem Sinne mitzugestalten, wenn wir uns zusammentun. Alle sind im Prinzip dafür. Nur über den Weg, der dorthin führt, wird gestritten. Gerade in der Sicherheitspolitik koordiniert man sich noch nicht so gern.
"Die EU ist kein Staat, sondern ein System ganz eigener Art"
Warum nicht?
Man darf nicht den Fehler machen, die EU mit einem Staat zu vergleichen. Sie ist kein Staat, sondern ein Staatenverbund, ein System ganz eigener Art. Dementsprechend kann man auch ihre Sicherheitspolitik nicht mit der eines Staates vergleichen.
Um hier zu Entscheidungen zu kommen, müssen alle Mitgliedstaaten zustimmen. Allerdings gehören zur Außenpolitik auch ganz andere Mosaiksteine – zum Beispiel die Handelspolitik. Da ist die EU eine wahre Weltmacht, da kann sie mit den USA, China und Indien auf einer Augenhöhe spielen.
Sie ist auch die weltweit wichtigste Geberin von Entwicklungshilfe und humanitärer Hilfe. Es gibt den treffenden, nach wie vor gültigen Satz: Die EU ist ein wirtschaftlicher Riese, ein politischer Zwerg und ein militärischer Wurm.
Es gibt also durchaus einen Platz für Europa in der multilateralen Welt?
Definitiv. Die EU hat 2012 nicht umsonst den Friedensnobelpreis bekommen. Sie hat einen Kontinent, der über Jahrhunderte vom Krieg ausgezehrt war, zu einem Kontinent des Friedens gemacht. Dieses einzigartige Modell kann auch in anderen Regionen der Welt erfolgreich sein. Der Markenkern Europas ist der doppelte zivil-militärische Ansatz.
Was ist darunter zu verstehen?
Die EU hat einerseits den großen Fundus an humanitärer Hilfe, Handels- und Entwicklungspolitik. Sie ist aber nicht nur eine Zivilmacht, sondern eine Zivilmacht mit Zähnen. Sie kann Wirtschaftssanktionen verhängen, sie verfügt auch über militärische Möglichkeiten.
Das heißt nicht, dass die EU kopflos aufrüstet, aber sie ist auch nicht pazifistisch. Sie hat einen gut gefüllten Werkzeugkasten: Das reicht von der Krisenprävention über Krisenmanagement bis zur Nachsorge.
Europa wird den Brexit spüren
Welche Folgen wird der Brexit für den internationalen Einfluss der Europäer haben?
Das Vereinigte Königreich sitzt im UN-Sicherheitsrat, ist eine legale Atommacht und hat ein weitverzweigtes diplomatisches Netz in der ganzen Welt. Deswegen wird durch den Brexit auf jeden Fall ein außen- und sicherheitspolitisches Schwergewicht die EU verlassen.
Das wird eine immense Lücke reißen. Andererseits war das Vereinigte Königreich in den vergangenen Jahrzehnten auch immer einer der größten Bremsklötze der Außen- und Sicherheitspolitik.
Schon allein der bevorstehende Austritt hat da ganz neue Fenster geöffnet: Es gibt demnächst einen gemeinsamen Verteidigungsfonds. 25 Staaten arbeiten außerdem gemeinsam an Rüstungsprojekten. Das ist sehr sinnvoll. Schließlich ist es widersinnig, in Europa 17 verschiedene Kampfpanzer zu haben.
Muss sich Europa nicht auch stärker von den USA emanzipieren, wenn es international eine Rolle spielen will?
Das ist spätestens seit dem Amtsantritt von Donald Trump die entscheidende Frage. Momentan wird das in Europa heftig diskutiert – nämlich unter den Stichworten "strategische Autonomie" oder "europäische Souveränität". Die Europäer wollen souveräner werden – und zwar nicht als Nationalstaaten, sondern auf gemeinsamer Ebene. Sie wollen eigene sicherheitspolitische Prioritäten setzen, Entscheidungen treffen und umsetzen.
Momentan sind wir noch nicht so weit. Doch wenn sich ein so wichtiger Partner wie die USA von Teilen der liberalen Weltordnung verabschiedet, wird diese strategische Autonomie nötig sein.
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