Die Flüchtlingskrise überfordert. Asylsuchende und Verantwortung werden eifrig weitergereicht. Dabei ist Solidarität der Grundgedanke der Europäischen Union. Ist das Projekt gescheitert? Schafft sich Europa gerade ab? Im Interview spricht eine EU-Expertin über Versäumnisse, Tendenzen und Konsequenzen.

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Die Europäische Union ist angeschlagen. Die Flüchtlingskrise stellt ihre Grundidee auf die Probe: Solidarität. Angesichts der Überforderung vielerorts wirkt es, als ginge es den Mitgliedstaaten nur darum, möglichst schnell möglichst viel Verantwortung weiterzugeben.

"Wir waren niemals eine Wertegemeinschaft, das war eine Illusion. Das zeigt sich jetzt", meinte jüngst "Stern"-Journalist Hans-Ulrich Jörges im ARD-Polit-Talk "Günther Jauch". "Bei vielen EU-Beitritten wollten die Länder vor allem Geld haben." Nur nationale Politik zähle, keine Solidarität, sagte Jörges. Hat er mit dieser Einschätzung Recht? Ging es nie um gemeinsame Werte? Vielmehr: Ist das Projekt EU gescheitert?

Die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Gabriele Abels ist renommierte Spezialistin auf dem Gebiet der Europäischen Integration. Im Interview mit unserer Redaktion spricht sie über Versäumnisse, Tendenzen - und Konsequenzen für Deutschland und die EU.

Frau Abels, wo ist die europäische Solidarität abgeblieben?
Prof. Dr. Gabriele Abels: Die nationalen Regierungen argumentieren mit Eigeninteressen. Der jüngste Gipfel war ja nun alles andere als ein großer Durchbruch. Es zeigt sich deutlich: Die nationalen Interessen stehen für jeden ganz klar im Vordergrund. Was die Solidarität betrifft, das ist gerade sehr problematisch.

Sprich: Es ging den Beitrittsstaaten immer nur um wirtschaftliche Interessen?
Klar war die EU-Osterweiterung für große Teile der Bevölkerungen in den Beitrittsstaaten mit der Hoffnung auf bessere wirtschaftliche Bedingungen verbunden. Gleichwohl hat auch das Motiv, in die Wertegemeinschaft Europa heimzukehren, eine wichtige Rolle gespielt. Aber Werte mit Leben zu füllen, ist schwierig.

Schauen Sie sich Polen an: Die sind wirtschaftlich im Aufschwung - könnten also Flüchtlinge aufnehmen - und dennoch gibt es den Rechtsruck. Das zeigt, dass die Bedeutung der Werte deutlich geriner ist, als man vermutet hätte. Es gibt im Osten eine ganz starke Renationalisierung.

Was sind die Gründe dafür?
Nehmen wir mal die kleinen Mitgliedstaaten Slowenien und Kroatien. Sie liegen auf der Balkanroute, sind deshalb unfreiwillig wichtig. Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass sie überfordert sind. Polen will überhaupt keine Flüchtlinge aufnehmen. Das finde ich für ein solch katholisches Land blamabel. Die Bereitschaft ist nicht da, weil der Nationalismus größer ist. Es gibt sicher auch Ängste durch die große Anzahl an Fremden, die dazu meist muslimisch geprägt sind. Aus deutscher Perspektive bekommt man sicherlich auch die Quittung.

Wofür?
Dafür, dass Deutschland in den vergangenen Jahren in der Griechenlandkrise einen harten Kurs gefahren ist. Das haben viele andere als nicht solidarisch empfunden. Jetzt bräuchte Deutschland die Solidarität der anderen, doch die sind zurückhaltend. Darüber hinaus erstarken in vielen Mitgliedstaaten fremden- und europafeindliche Parteien. Die Populisten nutzen die Stimmung. Deswegen weigern sich viele etablierte Parteien, sich die Flüchtlingsproblematik ins Land zu holen. Das stärkt die politische Konkurrenz.

Jeder guckt nach sich. Ergo: Es gab nie eine wirkliche Wertegemeinschaft?
Doch, es gab immer die Wertedimension. Das Projekt war nie nur wirtschaftlich motiviert. Die politische Integration ging teilweise auf. Oder nehmen wir die Bankenunion im Zuge der Eurokrise. Für Deutschland war die Wertedimension mitentscheidend wegen der Geschichte. Es ging nach dem Zweiten Weltkrieg um die Bindung an den Westen und die Rehabilitation der jungen Bundesrepublik.

Die Flüchtlingskrise setzt Grenzen. Nicht nur die CSU behauptet, dass von anderen Staaten gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen wird. Ist das so?
Das Schengen-Regime mit den Dublin-Regeln ist de facto außer Kraft gesetzt. Nach den Regeln müssten die Flüchtlinge in dem Land, in dem sie zuerst ankommen, registriert werden - sprich, die meisten in Griechenland. Dort müsste über Aufnahmeverfahren entschieden werden. Dass dieses System nicht funktioniert, ist schon lange klar.

Da haben die anderen europäischen Staaten Griechenland in den letzten Jahren alleine gelassen. Ein Land, das ohnehin mit innenpolitischen Themen und der Eurokrise völlig überfordert ist.

Fassen wir zusammen: Ist das Projekt EU gescheitert?
In der Eurokrise hat man mit vielen Kompromissen und vielen Bauchschmerzen irgendwie einen Weg hinbekommen. Gerade deshalb ist es bemerkenswert, dass von Frau Merkel und anderen Regierungschefs jetzt Sprüche kommen, dass dies das Ende Europas sein kann. Viele halten weiter an den Vorteilen fest, zum Beispiel dem Binnenmarkt. Andere Aspekte der Europäischen Integration drohen aber sehr wohl zu scheitern. Es ging und geht derzeit viel Vertrauen verloren.

Und die Nationalisten sind die Sieger?
Die populistischen Bewegungen wachsen in vielen Staaten. Was gerade passiert, ist Wasser auf ihre Mühlen. Die Regierungen stehen unter Druck. Wenn man nach Frankreich schaut: Man mag sich gar nicht vorstellen, dass Marine Le Pen Chancen haben könnte, Präsidentin zu werden. Ja, die Nationalisten sind auf dem Vormarsch.

Prof. Dr. Gabriele Abels hat an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen die Professur für Innen- und EU-Politik sowie für Europäische Integration inne. Sie ist Mitglied im Vorstand des Europäischen Zentrums für Föderalismusforschung (EZFF), im Vorstand des Europa Zentrums Baden-Württemberg sowie Mitglied des Wissenschaftlichen Direktoriums des Instituts für Europäische Politik (IEP) Berlin.
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