Die Schotten bleiben very british. Doch der Separatismus lebt - und er ist weiterhin brandgefährlich. Im Interview warnt Politik-Expertin Sabine Riedel eindringlich vor anderen separatistischen Bestrebungen in Europa. Die EU habe zu lange nichts dagegen unternommen. Nun müsse sie die Rote Karte zeigen.
In zahlreichen Regionen in Europa gibt es separatistische Bestrebungen, wie in Katalonien, dem Baskenland oder in Teilen Belgiens. Werden diese nach dem "Nein" in Schottland schwächer?
Sabine Riedel: Die separatistischen Bewegungen gibt es schon seit mehr als zwanzig Jahren. Seit zehn Jahren sind sie sogar im EU-Parlament vertreten als Europäische Freie Allianz (EFA). Das ist eine Partei, die ein ganz eigenes Europa-Konzept vertritt. Unabhängig von den Entwicklungen in Großbritannien sind diese Kräfte sehr ernst zu nehmen. Das Problem ist, dass sich damit noch keiner beschäftigt hat. Niemand hat bisher darin eine Gefahr für die europäische Gemeinschaft gesehen oder sehen wollen. Erst jetzt ist durch das Schottland-Referendum plötzlich das Thema in die Öffentlichkeit gekommen.
Was will die EFA?
Die EFA ist der Meinung, dass die großen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union keine Nationen darstellen. In deren Sicht sind sie aus mehreren Nationen zusammengesetzt. Die EU muss sich unbedingt mit der Europäischen Freien Allianz und ihrer Politik auseinandersetzen.
Was bedeutet das?
Grundlage unserer europäischen Staaten sind die politischen Willensnationen. Das heißt, die Bürger der Länder sind unabhängig von ihrer kulturellen und sprachlichen Zugehörigkeit Staatsangehörige. Die EFA aber will die Länder in Kultur- und Sprachgemeinschaften aufsplitten. Denn diese sind den Separatisten zufolge auch Nationen, nur haben sie keinen eigenen Staat. Unterm Strich schlagen sie also vor, aus den 28 EU-Mitgliedsstaaten 50 oder noch mehr zu machen. Das ist deren Europakonzept. Man kann sich vorstellen, dass dieses Szenario Unruhe und Unfrieden stiften würde.
Muss man die britische Regierung diesbezüglich kritisieren? Schließlich haben sie den Separatisten mit dem Referendum Vorschub geleistet.
Es geht nicht darum, der britischen Regierung Vorwürfe zu machen. Die EU muss sich mit der EFA auseinandersetzen und fragen, ob die Partei überhaupt dem Geist der Europäischen Gemeinschaft entspricht – und der europäischen Friedensordnung. Denn die Separatisten stellen ganz klar unsere heutigen Staatsgrenzen infrage.
Nimmt das "No" der Schotten den Separatisten den Wind aus den Segeln?
Ja. Denn das Referendum hat gezeigt, dass hier ein klares Symbol für die politische Willensnation gesetzt worden ist. Und sie ist die Grundlage für unser modernes demokratisches Staatswesen. Die Entscheidung der Schotten ist also ein "No" gegen diese politischen Kräfte, die kulturelle Argumente aus dem Hut zaubern, um die heutigen Staatsgrenzen infrage zu stellen.
Lässt sich beispielsweise die separatistische Bewegungen in Katalonien abschrecken?
Nein, das denke ich nicht. Die Katalanen versuchen schon seit Jahren eine interne EU-Erweiterung als politische Agenda durchzusetzen. Das heißt: Die Separatisten wollen ihren Nationalstaat verlassen und gleichzeitig in der EU zu bleiben – als neue Staaten. Das würde das ganze EU-Gebilde ummodeln, neuordnen. Das ist eine ganz gefährliche Geschichte. Weil hier Konflikte heraufbeschwört werden, die die Friedensordnung in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg eigentlich besänftigt hatte.
Was passiert, wenn sich eine Region abspaltet? Gibt es dafür einen Notfallplan?
Nein. Und ich wundere mich, dass die EU-Kommission und andere Institutionen bisher so wenig getan haben. Denn die Rechtslage ist eindeutig. Lediglich José Manuel Durão Barroso hat Anfang des Jahres der BBC gesagt, dass ein unabhängiges Schottland nicht mehr EU-Mitglied ist, es also aus den Verträgen automatisch austritt. Auch die ehemalige EU-Justizkommissarin Viviane Reding hat in Barcelona den Katalanen deutlich gemacht, dass sie bei einer Abspaltung von Spanien die EU verlassen.
Das heißt, den Separatisten ist eigentlich klar, welche Konsequenzen folgen.
Ja, die Separatisten wissen das. Deshalb haben sie Juristen befragt, welche rechtlichen Mittel sie einsetzen können. Das heißt, sie haben juristischen Rat bekommen und an Schottland weitergegeben, auch mit Brüssel zu verhandeln. Konkret hieß das: Sie wollten einen Zusatz zum Europäischen Vertrag aushandeln. Darin hätte stehen sollen, dass im Falle einer Abspaltung, das Land automatisch EU-Mitglied bliebe. Dem aber müssten alle 28 Mitgliedsstaaten zustimmen. Es war absehbar, dass das nie passieren wird. Es ist also eine Augenwischerei, mit der wir es hier zu tun haben. Die Separatisten hatten den Schotten einen Rat gegeben, der auf Sand gebaut ist. Aber die schottische Regionalregierung wollte diesen Weg gehen. Jetzt bin ich gespannt auf Katalonien. Die Situation dort ist völlig anders. Die autonome Gemeinschaft dort darf laut spanischem Verfassungsgericht kein Referendum abhalten. In Spanien ist das eine gesamtstaatliche Angelegenheit. Das heißt, alle Bürger müssten darüber abstimmen.
Was wäre das "Worst-Case"-Szenario?
Entgegen anderen Einschätzungen denke ich, dass das Referendum in Katalonien abgehalten wird. Und ich glaube, dass es zu politischen Konflikten stärkeren Ausmaßes kommen wird, als in Großbritannien. Und das wird auch auf die Basken übergreifen. Sie sind auf jeden Fall in Warteposition. Die Gefahr des Separatismus ist also nach wie vor brandaktuell. Niemand darf sich jetzt zurücklegen und meinen, mit dem Schottland-Referendum sei es damit erledigt. Spanien ist zudem ein besonderer Fall. Das Land befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise. Und wenn sich dann die reichste Region Katalonien aus dem Gesamtstaat verabschiedet, dann wird sie es umso mehr in die Krise stürzen. Gleichzeitig aber sagen die Katalanen, sie sind Europäer und wollen in der EU bleiben. Das heißt: Sie kündigen die nationale Solidarität mit Spanien auf, fordern aber weiterhin die Solidarität der Europäer für ihre derzeitige Wirtschaftskrise.
Was kann die EU unternehmen?
Europa muss den separatistischen Parteien die Rote Karte zeigen. Die EU-Mitgliedsstaaten müssen über Alternativen wie Föderalismus-Reformen nachdenken und für einen gerechten Ausgleich der Regionen untereinander sorgen. Man muss darüber nachdenken, wie man den Nationalstaat, der demokratisch legitimiert ist, durch eine solche Regionalisierung stärkt. An Schottland kann man sich wunderbar orientieren. Erst kurz vor der Abstimmung wurde endlich mal Tacheles geredet. Dort wurde ganz klar gesagt, was eine Unabhängigkeit für finanzpolitische Folgen hätte. Das Pfund hätte an Wert verloren. Unternehmen hatten angekündigt, ihre Investitionen zurückzufahren und es wurde sogar ein Bankenrun befürchtet. Übertragen auf den spanischen Fall heißt das, dass der Euro bald ins Visier geraten könnte. Dann geht es letztendlich nicht nur um die Stabilität Spaniens, sondern um die ganze Eurozone. Eine Unabhängigkeitserklärung Kataloniens würde ähnliche Turbulenzen an den Märkten auslösen. Ich habe wie auch manch anderer Kollege schon vor Jahren gewarnt, was da auf uns zukommt. Und wie wir jetzt sehen, ist die Lokomotive auf uns zugerollt. Es ist ganz, ganz schwierig, das alles noch in friedliche Bahnen zu lenken. Jetzt jagt eine Krise die andere. Wir haben das Problem, dass sich die verschiedenen Krisenherde immer mehr zuspitzen und wir dann möglicherweise aus der Not heraus Fehlentscheidungen treffen.
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