Bei der Europawahl wurden die Ampel-Parteien abgestraft: SPD, Grüne und FDP kommen zusammen auf gerade einmal 31 Prozent – kaum mehr als CDU/CSU. Am Montag werteten die Parteien das Ergebnis aus. Vor allem eine Frage stand im Raum: Ist die Ampel jetzt am Ende?

Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von F. Hartmann, L. Lattek, F. Busch, J. Schultheis und R. Sawicki sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es ist kurz vor zwölf am Montagvormittag, als SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert und Katharina Barley, die EU-Spitzenkandidatin, im Willy-Brandt-Haus vor die Presse treten. Sie werden im Atrium der Parteizentrale von klatschenden Anhängern empfangen. Freundlicher Applaus nach einem Wahlsonntag, der für die SPD desaströs endete.

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Gerade einmal 13,9 Prozent der Stimmen hat die Partei bei den Europawahlen geholt. Ein Debakel. Oder wie SPD-General Kühnert es ausdrückt: "Ein Wahlergebnis, das für den Stolz der sozialdemokratischen Partei eine Kränkung bedeutet."

Das Resultat könnte noch Nachwirkungen haben: Im Wahlkampf hat die Partei Kanzler Olaf Scholz plakatiert. Gezogen hat es nicht, im Gegenteil. Die SPD holte ein historisch schlechtes Ergebnis. Eine Niederlage, die auch am Kanzler haften bleibt. Bei den Sozialdemokraten dürfte die Nervosität größer werden. Auch für die Ampel insgesamt war es, mal wieder, ein Tag zum Vergessen. Zusammen kommen SPD, Grüne (11,9 Prozent) und FDP (5,2 Prozent) nur noch auf 31 Prozent. Zum Vergleich: CDU und CSU haben 30 Prozent der Stimmen geholt.

Klatsche für die Ampel: Die Opposition geht zum Angriff über

Längst ist die größte Oppositionspartei zum Angriff übergegangen. Olaf Scholz müsse im Bundestag die Vertrauensfrage stellen, forderte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann noch am Sonntagabend. Würde ihm keine Mehrheit der Abgeordneten das Vertrauen aussprechen, wären Neuwahlen angesagt.

In München bezeichnet CSU-Chef Markus Söder die Ampelkoalition als "trostlose Vereinigung". Der Rücktritt der Regierung, eine gescheitere Vertrauensfrage im Bundestag und Neuwahlen wären aus seiner Sicht die logischen Konsequenzen der Europawahl.

CDU-Chef Friedrich Merz äußert sich am Montag in Berlin etwas verhaltener. Er fordert die Regierung zu einem Politikwechsel auf – das würde aber auch bedeuten, dass diese Regierung im Amt bleibt. Olaf Scholz müsse jetzt Konsequenzen ziehen. Aber welche genau? Das, sagt Merz, sei die Entscheidung des Kanzlers.

Experte: Ende der Ampel unwahrscheinlich

Die Ampel täte nach diesem Ergebnis gut daran, sich zusammenzureißen und zu zeigen, was sie alles geschafft hat, sagt der Wahlforscher Constantin Wurthmann im Gespräch mit dieser Redaktion. Er lehrt vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. Der Experte sagt: "Das Ergebnis wird die bisherigen Konfliktlinien nicht unbedingt befrieden." Die Ampel-Parteien seien wahrscheinlich auch deshalb abgestraft worden, weil sie immer streiten.

Dass CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann nun die Vertrauensfrage von Kanzler Scholz fordert, sei nachvollziehbar, sagt Wurthmann. Eine solche Forderung gehöre zur Jobbeschreibung eines Generalsekretärs. Dennoch rechnet der Experte nicht damit, dass es dazu kommt. Bei den aktuellen Umfrageergebnissen dürften die Ampel-Parteien kein Interesse an einer Neuwahl haben. "Das könnte die Reihen innerhalb der Ampel in einem solchen Fall schließen."

Die ersten Reaktionen der Ampel-Spitzenpolitiker sprechen für die These des Politologen: Bisher stellt niemand die Koalition offen infrage.

Gegenseitig Schuld zugewiesen wird allerdings schon: In einem Interview mit dem Sender Phoenix spricht SPD-General Kühnert von einer "Kontaktschande". Sie sei einer der Gründe für das schwache Abschneiden der SPD. Was er damit meint: Die Koalitionspartner Grüne und FDP würden von einem Teil der Bevölkerung "sehr stark abgelehnt", was auf seine eigene Partei abfärbe.

FDP-Chef Lindner: "Kein Grund, Vertrauen zu entziehen"

Als das schwächste Glied in der Ampel galt bislang die FDP: miserable Umfragewerte, schmerzhafte Kompromisse, eine unzufriedene Basis. Immer wieder hatte man den Eindruck, die Liberalen könnten es auf ein Platzen der Koalition ankommen lassen. Nun aber haben sie am Sonntag mit Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann 5,2 Prozent eingefahren – und SPD und Grüne stehen als die großen Verlierer da. Kann das die FDP mit der Ampel versöhnen?

Glaubt man Parteichef Christian Lindner, ändert sich für die Liberalen nach der Europawahl jedoch nicht viel. Genießt Kanzler Olaf Scholz (SPD) noch seinen Rückhalt? Es gebe "keinen Grund, das Vertrauen zu entziehen", antwortet der Finanzminister am Montag im Hans-Dietrich-Genscher-Haus, der Parteizentrale der Liberalen.

Für die FDP gehe von der Europawahl ein "starkes Signal der Stabilisierung auch in der Bundespolitik" aus, sagt Lindner. Das heißt für ihn: Jetzt müssen die Liberalen erst recht auf ihre Forderung nach einer wirtschaftspolitischen Wende in Deutschland pochen. Die Schuldenbremse aber, das bekräftigte Lindner am Montag erneut, dürfe nicht angerührt werden. Einfacher dürften es Grüne und SPD mit ihrem Koalitionspartner nach der EU-Wahl also nicht haben.

Grüne wollen nicht auf andere zeigen

Die Grünen sind der große Verlierer der Europawahl. Ein Minus von 8,6 Prozentpunkten müssen sie verkraften, es ist der heftigste Verlust im Ampel-Bündnis. Am Montag ist die Öko-Partei dabei, ihre Wunden zu lecken – und nicht noch mehr Öl ins koalitionäre Feuer zu gießen. Parteichef Omid Nouripour stellt klar: Weiteren Streit will man nicht in der Öffentlichkeit austragen. Damit schielt er vor allem auf die anstehenden Haushaltsgespräche. Geld ist innerhalb der Ampel ein Pulverfass, so viel haben die vergangenen Jahre gezeigt. Nouripour will, dass sich das ändert.

Co-Chefin Ricarda Lang nickt, bestärkt ihren Co-Vorsitzenden. Jeder, stellt sie klar, müsse nun vor seiner eigenen Haustür kehren. Die Grünen wollen bei sich selbst anfangen und nicht mit dem Finger auf andere zeigen.

Kampf um die Milliarden: Auf die Ampel wartet der Haushalt 2025

Doch es wird sich schon bald zeigen, ob das nicht bloß ein frommer Wunsch ist. Auf die Ampel wartet mit der Aufstellung des Bundeshaushalts für 2025 bereits die nächste Herausforderung. Klingt zunächst nach business as usual, ist es aber nicht: Schließlich fehlt den Koalitionären ein mittlerer zweistelliger Milliardenbetrag.

Ob der allein durch Einsparungen – Steuererhöhungen und ein Aussetzen der Schuldenbremse lehnt die FDP ab – zustande kommt, ist fraglich. Kanzler Olaf Scholz hatte zwar verkündet, dass innerhalb der Regierung erst mal Schwitzen angesagt sei. Das allerdings war vor der Europawahl und dem desaströsen Abschneiden der SPD.

Am Montag bekräftigt auch Kühnert, dass seine Partei keinem "Sparhaushalt" zustimmen werde. "Die Sozialdemokratie wurde nicht gewählt, um Haushalte auf Kosten des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu beschließen", sagt Kühnert. Eine Warnung in Richtung FDP?

Auf die Frage eines Journalisten, ob die Ampel daran zerbrechen könnte, sagt Kühnert einen Satz, der zumindest aufhorchen lässt. "Das ist eine hypothetische Frage, die ich nicht beantworten kann". Ein klares Bekenntnis klingt anders.

Über den Gesprächspartner

  • Constantin Wurthmann ist Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er forscht unter anderem zu politischen Einstellungen und dem Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland. 2022 erschien seine Monografie "Wertorientierungen und Wahlverhalten. Effekte gesellschaftlicher Wertorientierungen bei den Bundestagswahlen 2009-2017".

Verwendete Quellen

  • Gespräch mit Constantin Wurthmann
  • Besuch der Pressekonferenzen von CDU, CSU, SPD, FDP und Grünen
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