• Der ehemalige BND-Präsident Gerhard Schindler beobachtet die aktuelle globale Sicherheitslage mit Sorge. "Die Welt ist unsicherer geworden", sagt er im Interview mit unserer Redaktion.
  • Im Hinblick auf die Situation in der Ukraine setzt Schindler auf den Ausbau diplomatischer Bemühungen.
  • Zudem appelliert er: "Russland gehört zur europäischen Familie, deshalb ist die Idee, Russland nicht auszugrenzen, sondern einzubinden, eine vernünftige und gute Idee."
Ein Interview

Wie bewerten Sie die aktuelle globale Sicherheitslage?

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Gerhard Schindler: Eine von vielen Gefährdungen ist der Vormarsch der autoritären Nationalpopulisten. Da gibt es etliche, aber die wichtigsten sind Erdogan in der Türkei, Modi in Indien, Xi in China und Putin in Russland. Eigentlich haben die kaum etwas miteinander zu tun, aber die Parallelen sind frappierend. Das sind autoritäre, machtbewusste Menschentypen, die von der westlichen, demokratischen Kultur nichts halten, den Westen als dekadent beurteilen, eine eigene, aus ihrer Geschichte heraus begründete Kultur und einen eigenen Führer- und Persönlichkeitskult propagieren wollen. Diese Entwicklung ist besonders gefährlich, weil sie zunehmend irrational wird und die Regeln internationaler Gerichtshöfe oder des Völkerrechts immer weniger akzeptiert werden. Das sind Menschentypen, die aus sich selbst heraus Recht setzen und erklären, was richtig und falsch ist. Deshalb sind sie so schwer zu begreifen und zu greifen.

Inwiefern?

Mit ihnen ist es extrem schwierig, Vereinbarungen zu treffen, Krisen zu lösen, Konfliktsituationen zu bereinigen. Es ist leider nicht nur so, dass dieses Modell im Begriff ist, ein Exportschlager zu werden. Sondern diese Leute schrecken auch nicht davor zurück, militärische Gewalt als Mittel der Politik einzusetzen. Das erleben wir ja gerade lehrbuchhaft bei Putin in der Ukraine. Bei den Chinesen sehen wir es im Südchinesischen Meer und in Xinjiang gegenüber den Uiguren, bei Erdogans Türkei gegenüber Syrien und Irak und bei Modi im Kaschmirkonflikt. Die Konfliktbefriedungsmechanismen, die wir früher hatten, versagen, zumal sich der Westen auf diese Entwicklung noch gar nicht richtig einstellen konnte.

Zbigniew Brzezinski [ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater der USA; Anm.d.Red.] schrieb bereits 1997 in seinem Buch "Die einzige Weltmacht", die Ukraine werde ein Dreh- und Angelpunkt in der Geopolitik sein. War das absehbar, was da jetzt passiert?

Putin ist bereit, unter bestimmten Umständen Militär einzusetzen. Das wusste man: siehe Georgien, Südossetien, Abchasien, Transnistrien und die Krim. Darauf haben nicht nur die westlichen Sicherheitsbehörden hingewiesen, sondern das waren ja offene Informationen, die allen zugänglich sind. Die Frage war nicht, ob das geschehen würde - sondern wann. Und dabei kam es darauf an, dass Putin denkt, der Westen sei schwach genug, eine solche Attacke hinzunehmen. Die Amerikaner haben recht früh erklärt, dass ein Einmarsch der Russen in die Ukraine keinen militärischen Einsatz der Vereinigten Staaten nach sich ziehen würde. Viele andere westliche Politiker sind da mitgezogen. Damit hatte Putin sein Zeitfenster. Er wusste, er kann jetzt einmarschieren, ohne dass der Westen militärisch agiert.

In einem Artikel in der FAZ aus dem Jahr 2005 ging es darum, wie mit Geld aus den USA die bunten Revolutionen in Osteuropa gefördert wurden. Putin erklärte, das sei eine Provokation. Ab wann spricht man von legitimer Interessenvertretung in einem anderen Land und wann von illegitimer Einflussnahme?

Das ist natürlich eine ständige Abwägung, aber eins ist klar: Man kann nur dann auf dieser Welt halbwegs friedlich zusammenleben, wenn man gewisse Grundprinzipien anerkennt und eines dieser Grundprinzipien ist, dass die Eigenstaatlichkeit unverletzbar ist. Dass man nicht einfach angreifen kann, dass man nicht einfach besetzen kann, dass man nicht einfach Menschen töten kann. Diese Unverletzlichkeit der Staaten zieht nach sich, dass verschiedene Gruppierungen innerhalb der Staatlichkeit eine eigene Politik betreiben dürfen. Sie können sich nach links orientieren, sie können sich auch nach rechts orientieren, sie müssen nicht einer bestimmten Religion angehören. Kurzum: Es geht um Pluralismus. Im Rahmen dieser eigenen Staatlichkeit Unterstützung von anderen, von außen, anzunehmen, das finde ich völlig legitim und darf auch nicht infrage gestellt werden, sonst können wir in dieser Welt keine friedliche Zukunft haben.

Glauben Sie, diplomatische Bemühungen haben im Ukraine-Krieg noch eine reelle Chance zur Deeskalation?

Es ist ganz, ganz wichtig, dass die diplomatischen Bemühungen nicht eingestellt werden. Sie müssen sogar verstärkt werden. Zurzeit haben wir ja eher den Schwerpunkt auf der militärischen Auseinandersetzung und gegenseitigen Abgrenzung. Wir haben kaum großangelegte Initiativen, um den Konflikt diplomatisch in den Griff zu bekommen.

Woran, glauben Sie, liegt das?

Uns fehlen die Chefunterhändler, wie man sie früher hatte. Beispielsweise Egon Bahr, der ein super Verhandler war. Auch Henry Kissinger war ein super Verhandler. Uns fehlen also einerseits die Figuren für eine solche strategisch angelegte, diplomatische Offensive, aber uns fehlen auch die Ziele. Wie wollen wir das Ganze beilegen? Wo sind unsere Linien? Wie soll das geregelt werden? Uns fällt es offensichtlich schwer, diese Ziele zu formulieren. Was wir schnell formulieren können, ist: Russland darf nicht gewinnen. Aber das ist ja sehr vage und unbestimmt und wie soll das konkret gehen? Da fehlt noch Arbeit, die geleistet werden muss.

US-Präsident Joe Biden hat sich diplomatisch in die Nesseln gesetzt, als er sagte, Putin dürfe nach diesem Krieg nicht mehr an der Macht bleiben.

Ich glaube, es ist schwer, in einer unvernünftigen Welt immer vernünftig zu bleiben, aber das muss man jetzt doch erwarten. Das ist kein Spiel, wir stehen an der Schwelle zum Dritten Weltkrieg. An dieser Schwelle muss man sich überlegen, welche Äußerungen man abgibt. Eine weitere Eskalation im Krieg muss verhindert werden und verhindern kann man nicht, indem man den militärischen Konflikt anheizt, sondern indem man versucht einen Waffenstillstand als ersten Schritt zu erwirken.

Sind Sie für oder gegen Waffenlieferungen?

Ich bin schweren Herzens für Waffenlieferungen, weil die Ukraine beschlossen hat, sich zu wehren, von ihrem Selbstverteidigungsrecht Gebrauch zu machen und uns dabei um Hilfe gebeten hat. Dieser Krieg betrifft das Existenzrecht des ukrainischen Volkes direkt vor unserer Haustür. Wer will da tatenlos zuschauen? Es geht jetzt darum, sich zu positionieren für künftige Verhandlungen. Der Ukraine muss also geholfen werden, damit ihre Ausgangsbedingungen für die Verhandlungen eines Waffenstillstandes akzeptabel sind. Aber wir müssen dabei auch sehr sorgfältig überlegen, was und wie wir es machen. Ich gebe zu, das ist eine Gratwanderung, die schwierig ist.

Putin hat die Invasion der Ukraine mittels Philosophien und Visionen vorbereitet. Aus der eigenen Geschichte leitet er Großmachtansprüche ab. Müsste eine europäische Vision dem entgegenstehen?

Putin hatte ja erst einmal versucht, sich in das bestehende System der Staatengemeinschaft einzubringen. Aber er sieht sich darin gescheitert, was unter anderem daran lag, dass der Westen es versäumt hat, Russland in eine neue europäische Sicherheitsarchitektur mit einzubinden. Putin sieht für den Zusammenbruch der Sowjetunion den Grund, dass man seinerzeit unreflektiert die westlichen Werte übernommen und dadurch die größte Krise in Russland seit dessen Existenz herbeigeführt hat. Den Zusammenbruch der Wirtschaft, des Gesellschaftssystems, die bittere Armut im ganzen Land, die Demütigung, dass man von einer früheren Großmacht in eine unbedeutende Macht untergegangen ist. Das haben er und seine Berater selbst erlebt. Und so haben sie versucht, daraus die Lehren zu ziehen. Nachdem Putin im Westen keine Zukunft mehr gesehen hat, hat er die Vision einer eurasischen Idee propagiert. Nämlich die, dass es auf der Welt nicht nur das eine Machtzentrum USA geben dürfe, sondern dass es mehrere Machtzentren geben müsse. China in Asien, Russland in Eurasien und diese Ideologie bewegt und treibt das System Putin. Weg von der Monostruktur, in der die USA die Bestimmer sind, hin zu einer multipolaren Welt. Brauchen wir deswegen eine neue europäische Vision? Wir haben doch unsere politische Kultur und wir haben gute Erfahrungen mit unserer Demokratie gemacht. Unsere Vision ist das friedliche Zusammenleben der Völker. Allerdings werden wir unsere geopolitischen Sicherheitsanstrengungen erheblich steigern müssen, wenn wir den zukünftigen Herausforderungen Stand halten wollen.

"Russland gehört zur europäischen Familie"

Als Sie sagten, dass der Westen es versäumt habe, Putin in die Sicherheitsarchitektur Europas einzubinden, musste ich an Putins Rede im Deutschen Bundestag von 2001 denken, in der Putin dem Westen die Hand reichte. Wieso ist diese Handreichung nicht angenommen worden?

Die Welt ist nicht so, dass es eine monokausale Erklärung für dieses oder jenes gibt. Es gibt immer mehrere Gründe. Ich kann nur sagen, dass der Versuch der Einbindung Russlands nicht konsequent genug umgesetzt wurde. Man hat es versäumt, eine neue europäische Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Russlands zu schaffen. Im Nachhinein fällt es mir schwer, festzumachen, woran das gelegen hat. Diesen Fehler dürfen wir für die Zukunft nicht wiederholen. Russland gehört zur europäischen Familie, deshalb ist die Idee, Russland nicht auszugrenzen, sondern einzubinden, eine vernünftige und gute Idee.

Macron meinte gerade, dass Russland bei zukünftigen Friedensverhandlungen nicht erniedrigt werden dürfe.

Der französische Präsident hat recht. Es wird keine russlandfreie Zukunft geben, Russland wird es immer geben und wir werden mit den Russen auch die nächsten 10, 20, 50 Jahre auskommen müssen.

Halten Sie Putin als Präsident für Russland weiterhin für tragbar?

Natürlich muss man Kriegsverbrechen und Verstöße gegen das Völkerrecht auch an Personen festmachen: Ein General hat einen Schießbefehl gegeben, ein Politiker hat dies gemacht, Putin hat jenes gemacht. Insofern bin ich dafür, dass man das dokumentiert und festhält. Aber wenn man einen Waffenstillstand haben will, dann wird man diesen Waffenstillstand nur mit und nicht gegen Putin machen können. Wir müssen uns Schritt für Schritt einer vernünftigen Lösung nähern und der erste Schritt – jedenfalls nach derzeitiger Lage - geht nur mit Putin.

Es gibt viele Kritiker hinsichtlich der 100 Milliarden Euro, die in die Bundeswehr gesteckt werden sollen. Wie sehen Sie das?

Wenn man sich die Entwicklung in der Welt ansieht, dann stellt man fest: Die Welt ist unsicherer geworden. Wo man hinsieht, gibt es Krisen, Krisen, Krisen. Und in den letzten Jahren ist keine einzige Krise nachhaltig gelöst worden. Nur weil man lange nichts von einer Krise gehört hat, heißt das nicht, dass sie gelöst ist. Früher wurden zum Beispiel in den Nachrichten noch Berichte gebracht vom UN-Sicherheitsrat, der getagt und etwas bewegt hat, von Friedens- und Konfliktverhandlungen der UN oder von Urteilen des internationalen Seegerichtshofes. Das ist heute kaum noch der Fall, denn diese internationalen Konfliktlösungsmechanismen verlieren mehr und mehr an Einfluss. Die Staaten halten sich immer weniger an diese Regeln. Sie halten sich leider nicht mehr ans Völker- und Kriegsvölkerrecht. Wir entwickeln uns in die Steinzeit zurück. Es geht nicht mehr darum, wer die besseren Argumente hat. Es zählt nur eins: Wer ist der Stärkere? Will man in diesem System nicht untergehen, braucht man eben auch Stärke und Stärke ist gleich militärische Stärke. Deutschland ist darauf angewiesen, mit anderen Staaten weltweiten Handel zu treiben, dass See- und Luftwege bestehen, dass Lieferketten genutzt werden können. Deswegen glaube ich, dass es richtig ist, dass Deutschland seinen Teil beiträgt und viel Geld ausgeben muss für militärische Macht. Sonst werden wir uns in dieser zukünftigen Steinzeit nicht behaupten können.

Über den Experten: Gerhard Schindler war von 2012 bis 2016 Präsident des Bundesnachrichtendiensts. Im Jahr 2013 stand er wegen der NSA-Abhöraffäre in der Kritik. Seit seinem Ausscheiden 2016 ist der gelernte Jurist als Unternehmensberater und Lobbyist in Sicherheitsfragen tätig.

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