Seit Jahren wird über Rassismus und andere Missstände in der Polizei hitzig diskutiert. Ein erster Zwischenbericht zu einer großen Polizeistudie soll nun die Einstellung von Polizisten und deren Alltag näher beleuchten. Doch der Wissenschaftler und Polizeiexperte Rafael Behr zweifelt an dem Mehrwert der Studie.

Ein Interview

Herr Behr, an der Polizeistudie haben nicht alle Bundesländer teilgenommen. Zudem variieren die Teilnehmerquoten innerhalb der Landespolizeien drastisch. Wie aussagekräftig sind also die ersten Studienergebnisse?

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Rafael Behr: Die Rücklaufquote von im Schnitt 16 Prozent ist für die Polizei miserabel. Das liegt aber auch daran, dass die Gewerkschaften früh Stimmung gegen wissenschaftliche Studien gemacht haben.

Man merkt dieser Studie also an, dass sie schon vor der Veröffentlichung ein Politikum war? Schließlich hat sich Ex-Innenminister Horst Seehofer, der sie in Auftrag gab, lange gegen eine umfassende Polizeistudie gewehrt. Eine Befragung, die explizit Rassismus innerhalb der Polizei untersucht, hat er sogar verhindert.

Selbstverständlich. Die Fragen und die Art wie sie gestellt werden, tun niemandem richtig weh. Sie sind alle sehr vorsichtig formuliert. Fragen nach extremen und rassistischen Haltungen kommen auch so gut wie gar nicht vor. Höchstens in dem Zusammenhang, wie die Polizei auf Rassismusvorwürfe reagiert. Da gab es natürlich eine Veränderung zu der geforderten Rassismus-Studie. Es wurden Fragen gestellt, die alle ohne Gesichtsverlust beantworten können.

Der Kriminologe Tobias Singelnstein hat auch kritisiert, dass die Belastung der Polizisten abgefragt wurde. Das würde den Eindruck erwecken, dass diese und die Einstellung der Beamten zusammengehören.

Das ist wirklich ärgerlich, dass dieser Zusammenhang immer wieder aus der Mottenkiste geholt wird. Wir haben in den letzten 20 Jahren drei Studien über Gewalt und Belastungen im Polizeidienst gehabt. Wir wissen fast alles darüber, wie Polizisten über Gewalt und Belastungen berichten. Aber das wird wieder untersucht, weil die Gewerkschaften das wollten. Denen hilft das, um immer wieder zu sagen: "Die Polizisten sind Opfer."

Welche Kritikpunkte haben sie noch an der Studie?

Was ich in die Irre führend und unergiebig finde, ist, dass die Polizei dauernd mit dem Rest der Bevölkerung verglichen wird. Man hat sich da an zwei großen Studien orientiert: Die sogenannte Mittestudie aus Bielfeld und die Leipziger Autoritarismusstudie. Dann hat man die Einstellungen in der Bevölkerung mit denen innerhalb der Polizei verglichen. Das Ergebnis ist, dass die Polizei in allen Aspekten ähnlich oder besser abschneidet. Aber der Vergleich zwischen Polizisten und normalen Bürgern ist Humbug.

Warum?

Weil der Rest der Bevölkerung keine hoheitlichen Rechte hat. Er trägt keine Waffe, hat keinen Dienstausweis und kann niemanden festnehmen. Was soll es bringen, einen Polizisten mit einem Postboten zu vergleichen? Ich würde auch sagen, mit den Onlinebefragungen kann man sowieso schlecht konkret Haltungen innerhalb der Polizei erfragen. Natürlich wird sich niemand in einer Onlinebefragung die Blöße geben und sagen: "Ich bin Reichsbürger oder rechtsextrem". Und linksextrem sowieso nicht.

Wie hätte man an die Sache herangehen müssen?

Dafür muss man schon ins Feld gehen. Das wurde auch gemacht, allerdings nur für sechs Tage. Das ist viel zu wenig. Man hätte die Polizisten länger in der Praxis begleiten müssen. Mindestens ein halbes Jahr. Nur wenn man Beamte beobachtet und ihre Alltagsgespräche mithört, kann man sich ein Bild ihrer tatsächlichen Einstellung bilden. Dann sieht man die Brechungen und zum Beispiel, wo die Ironie versteckt ist, wenn jemand sagt, "Wir stehen mit beiden Beinen fest auf dem Boden des Grundgesetzes" - und anschließend lacht. Aber man sieht auch die Komplexität des Polizeialltags besser und die vielen Dilemmata, in die die Männer und Frauen der Polizei geraten können.

Also aus Ihrer Sicht liefert die Studie keine großen Erkenntnisse?

Die Ergebnisse, die erzielt worden sind, sind wenig überraschend. Im Prinzip wissen wir kaum Neues. Was aber hervorsticht, ist, dass zehn Prozent der Polizisten verfestigte autoritäre Einstellungsmuster haben und 58 Prozent diesbezüglich ambivalent sind. Diese 58 Prozent sind, sagen wir mal, wankelmütig, ich würde dazu latent autoritär oder autoritär disponiert sagen. Das heißt mindestens, dass sie sich in der Polizei nicht offen gegen problematische Einstellungen positionieren. Dass diese Gruppe so groß ist, hätte ich nicht gedacht und vor ihr habe ich Angst.

Wieso?

Diese Ambivalenz macht Demokratie beschädigungsanfällig. Es nutzt nichts, den Mund zu halten und zu sagen: das ist Neutralität. Was wir heute fordern müssen, ist, dass sich Polizisten aktiv für den Demokratieschutz einsetzen. Diese große Gruppe derer, die innerhalb der Polizei keine Haltung zeigt, ist für mich ein Alarmzeichen. Das stärkt mich in der Überzeugung, dass die Polizei auf dem Weg zu einer autoritär-konservativen Organisation ist. Ich möchte aber betonen: Es gibt viele Menschen und Kräfte in der Polizei, die sich redlich bemühen, einen guten Job zu machen und ihren Beruf demokratiefest auszuüben. In letzter Zeit habe ich aber das Gefühl, dass die rückwärtsgewandten Kräfte, die den Ruf der Polizei ruinieren, immer frecher und lauter geworden sind

Was genau meinen Sie mit "autoritär-konservativ"?

Autoritär deshalb, weil sie immer recht haben will und äußerst rigide auf Kritik reagiert; konservativ, weil sie an den bestehenden Verhältnissen nichts ändern will. Nun kann man gegen konservativ allein nichts sagen. Aber die Kombination ist für eine offene Gesellschaft gefährlich. Das größte Problem der Polizei ist, dass sie sich von außen nicht erforschen und kontrollieren lässt. Sie denkt, sie macht alles richtig und alle Abweichungen sind nur Einzelfälle. Die Polizei hat eine Riesenangst davor, zuzugeben, dass es in ihr strukturelle Bedingungen gibt, die zu Fehlverhalten führen. Das heißt nicht, dass die Strukturen rassistisch sind, aber dass es welche gibt, die den Rassismus nicht verhindern.

Aber die Studie sagt explizit, dass sich "mehr als nur Einzelfälle" finden lassen, bei denen die "individuelle Einstellung kaum mit den Leitbildern der Polizei in Einklang zu bringen ist". Also ein Fortschritt in der Debatte, oder?

Gesehen von dem Einzelfall-Narrativ der Polizei her schon. Aber einen Satz vorher steht auch, dass menschen- sowie demokratiefeindliche Weltbilder nicht weit verbreitet sind und es kein Systemversagen gibt. Das ist natürlich eine entgegenkommende Aussage gegenüber den Innenministern. Nach dem Motto: Ihr müsst euch keine Gedanken machen, es sind handhabbare Probleme.

Wenn etwa rechte Chatgruppen in der Polizei auffliegen, zeigen sich Politiker immer wieder schockiert. Jedes Mal wird dann versprochen, die Missstände anzugehen. Doch passiert ist seit Jahre nicht wirklich etwas. Wieso?

Das hängt mit der Lobbyarbeit der Polizei zusammen, die es schafft, jede Form von Kritik als unstatthaft abzuweisen. Hamburg und Baden-Württemberg sind zum Beispiel aus der Studie ausgestiegen, weil sie behaupteten, durch sie würde die Polizei diskriminiert und unter Generalverdacht gestellt. Also die alten Sprüche, die so immer fallen und immer noch nicht wahr sind. Die Polizei ist davon überzeugt, dass sie sich selbst regulieren und reformieren kann. Jeder Einblick von außen und weitere Kontrollinstanzen, abseits der Staatsanwaltschaften und der Gerichte werden abgewehrt.

Aus politischer Sicht wäre es doch sinnvoll, Reformen auch gegen den Widerstand der Gewerkschaften durchzusetzen. Die Politik muss sich schließlich nicht nur vor der Polizei verantworten.

Sagen Sie das mal den diversen Innenministern (lacht). Mit Herrn Herrmann (Anm. d. Red: gemeint ist der Innenminister von Bayern, Joachim Herrmann) können Sie anfangen. Der steht wie ein Fels in der Brandung vor seiner Polizei, egal, was passiert. Es ist leider so, dass insbesondere die konservativen Politiker sich extrem sperren. Natürlich gibt es auch Bundesländer - Niedersachsen oder Berlin etwa -, die von den Einzelfall-Erzählungen abweichen. Aber die müssen auch gegen die rechtskonservative Lobby ankämpfen - und die besteht auch aus den konservativen Wählern. Es ist ja nicht so, dass die Öffentlichkeit eine einheitliche Meinung zu den Problemen in der Polizei hat. Es gibt genug, die sogar eine noch viel härtere Polizei wollen, die noch stärker durchgreift.

Innenminister Nancy Faeser scheint die Probleme aber offensiver anzugehen als ihr Amtsvorgänger Horst Seehofer. Verschiebt sich die politische Wahrnehmung der Polizei aktuell?

Natürlich erkenne ich auch an, dass es Bewegung gibt. Etwa die Einsetzung eines Polizeibeauftragten auf Bundesebene. Auch von den Grünen gibt es auf Bundesebene durchaus immer wieder Impulse für eine Polizeireform. Die Gewerkschaften waren wahrscheinlich auch mit Herrn Seehofer besser verbandelt als mit Frau Faeser. Die SPD ist auch nicht so anfällig für den konservativen Geist in der Polizei, wie die Union.

Aber?

Es bewegt sich nichts Fundamentales. Es werden mittlerweile durch einige Studien in den Länderpolizeien immer wieder Steine ins Wasser geworfen, die Wellen schlagen und zunehmend dazu führen, dass sich Personalverantwortliche von ihren verkrusteten Positionen wegbewegen, weil sie die Probleme einfach nicht mehr leugnen können. Aber das passiert in homöopathischen Dosen und nicht mit einer kraftvollen Kneippkur.

Den unabhängigen Polizeibeauftragten, den Sie erwähnten, will die Bundesregierung dieses Jahr einsetzen. Er soll unter anderem die Arbeit der Bundespolizei beaufsichtigen. Was halten Sie von dem Posten?

Ein Polizeibeauftragter ist besser als kein Polizeibeauftragter. Prinzipiell ist das eine gute Sache. Er kann etwa Gespräche und Aufklärung initiieren und Opfern eine Stimme geben. Nur ist die deutsche Situation leider so, dass der Polizeibeauftragte keine Ermittlungskompetenz hat. In allen Gesetzen zu dem Posten steht explizit drin, dass er für Strafsachen nicht zuständig ist. Das heißt, wenn es hart auf hart kommt und es darum geht, Handys auszulesen oder Zeugen zu vernehmen, dann ist der Polizeibeauftragte am Ende.

Und diese Kompetenzen würde er Ihrer Meinung nach in der Praxis brauchen?

Gerade wenn es um Vorfälle von massivem Polizeiversagen wie beim NSU 2.0 oder dem rassistischen Anschlag in Hanau geht, ist es unabdingbar, dass es eine Instanz außerhalb der Polizei gibt, die ermitteln kann. Denn in Polizeiermittlungen haben viele Menschen kein Vertrauen mehr, besonders dann, wenn es um Beschuldigungen an die Polizei geht. Deshalb ist es dringend erforderlich, dass die Rolle um die Ermittlungskomponente ergänzt wird, wie zum Beispiel in Großbritannien oder in Dänemark. Im Moment ist es so, dass die Erwartungen der Zivilgesellschaft an die Rolle eines oder einer Polizeibeauftragten unheimlich hoch und die ihm oder ihr zugestandenen Kompetenzen durch den Gesetzgeber unheimlich niedrig sind.

Halten Sie das in Deutschland für realistisch?

Nein. Die Gewerkschaften werden nie zulassen, dass irgendwer anders als ein Staatsanwalt in der Polizei rumfuhrwerkt.

Zur Person: Professor Dr. Rafael Behr arbeitete von 1975 bis 1990 als Polizeibeamter in Hessen. Nach einem Soziologie- und Psychologiestudium wechselte er in die Wissenschaft. Von 2008 bis März 2024 war Professor für Polizeiwissenschaften mit Schwerpunkt Kriminologie und Soziologie an der Hochschule der Polizei Hamburg. [Anm. d. Red. dieses Interview wurde erstmals im April 2023 veröffentlicht]
Die gesamten Zwischenergebnisse zu der Studie "Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten" finden Sie hier.
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