Von einer "kriselnden, zerstrittenen NATO" sprach die "ARD-Tagesschau" nach dem Gipfel. Emmanuel Macrons Diagnose vom "Hirntod" des Verteidigungsbündnisses hatte die Wahrnehmung des Treffens in London offensichtlich vorgeprägt. Doch nicht alle sehen das größte Verteidigungsbündnis der Welt in so kritischer Lage: Der Experte Henning Riecke sieht die NATO in vielerlei Hinsicht sogar auf einem guten Weg.
Herr Riecke,
Hennig Riecke: Man muss das Treffen in London mit einer anderen Messlatte bewerten als andere NATO-Gipfel. Es war ja kein Arbeitstreffen, sondern eine Geburtstagsfeier. Aber angesichts der Irritationen im Vorfeld bot der Gipfel tatsächlich Raum zur Beruhigung. Die Stimmung nach dem Gipfel ist trotz bestehender Spannungen besser als vorher.
Positiv ist, dass Merkel und Trump sich verstanden haben – die niedrigen deutschen Verteidigungsausgaben waren diesmal kein großer Streitpunkt. Als wichtigen Erfolg werte ich, dass das Bündnis einen Diskurs über den zukünftigen Umgang mit China begonnen hat.
Bedrohungen von außen dienen oft als Mittel, um innere Zerwürfnisse zu flicken – ist die Auseinandersetzung mit China Klebstoff für das angeschlagene Bündnis?
Nein, die Bewertung Chinas ist ein wichtiger Punkt in den Diskussionen der NATO-Partner. Dass man sich jetzt ernsthaft mit Chinas Rolle auseinandersetzt, ist nicht nur wichtig für den Zusammenhang, sondern auch für die Strategie des Bündnisses.
"Zurzeit läuft vieles wirklich gut"
Kann man bei der NATO wirklich noch von einem funktionierenden Bündnis sprechen, wenn die Forderungen und Beurteilungen so weit auseinanderdriften wie in letzter Zeit?
Die NATO ist sicherlich an verschiedenen Stellen durch die divergierenden Interessen ihrer Mitglieder geprägt. Tatsächlich läuft aber vieles zurzeit wirklich gut ...
... obwohl Donald Trump das Bündnis immer wieder sehr deutlich infrage gestellt hat?
Der US-Präsident und die mit ihm loyale Regierung senden kritische Signale beim Thema Lastenteilung. Aber wenn Trump aus dem Bauch heraus austreten wollte, würde er schnell merken, dass ihm das im bevorstehenden Wahlkampf schaden würde.
Dass er in der NATO unter diesem innenpolitischen Gesichtspunkt agiert, ist schlecht. Aber ich sehe die USA trotzdem deutlich auf der Seite des Bündnisses.
Und was ist mit Recep Tayyip Erdogan, der von der NATO Solidarität gegen die Kurden fordert und gleichzeitig Waffen in Russland kauft?
Die Invasion in Syrien ist ein Völkerrechtsbruch – mit den Kurden zielt der Angriff auf einen wichtigen Verbündeten im Kampf gegen den Islamischen Staat. Die Chuzpe von Erdogan besteht darin, dass er die Anerkennung der Kurden als Terroristen fordert und gleichzeitig von der EU Unterstützung bei der Ansiedlung von Flüchtlingen verlangt – in Gebieten, aus denen Menschen vertrieben wurden.
Das ist ein grobes Vorgehen gegen die EU und auch gegen das NATO-Bündnis, in dem Erdogan mit der Bindung an Russland eine Sonderrolle spielen will. Die NATO darf der Türkei keine Legitimität verschaffen. Sollte es irgendwann eine Stabilisierungsmission der Allianz in Nordsyrien geben, muss sie aber trotzdem mit den lokalen Machthabern sprechen – also mit der Türkei, aber auch mit Russland und Syrien.
"Innerlich gelähmt ist die NATO gewiss nicht"
Emmanuel Macron hat der NATO sogar den "Hirntod" bescheinigt. Ist so ein Vorwurf nicht tödlich für ein Verteidigungsbündnis?
Nein, denn Macron will ja nicht die NATO auflösen oder die Amerikaner aus Europa drängen – er will die NATO sogar stärken. Allerdings in seinem Sinn: Er will eine starke EU-Verteidigungspolitik unter französischer Führung, die autonom agieren kann, aber auch dort operativ eingreift, wo es für Frankreich wichtig ist – vor allem in Afrika.
Gleichzeitig würde dies aber auch der NATO nützen, Macron warnt aber vor dem Ausstieg der USA. Mit diesem Hebel versucht er die Europäer zu überzeugen, mehr für die Verteidigung zu tun. Die Forderungen aus Paris nach einem starken Europa in der NATO sind berechtigt.
Macron hat aber mit seiner Kritik auch die Fähigkeit der NATO in Zweifel gezogen, auf neue Anforderungen mit neuen Konzepten und Strategien reagieren zu können.
Er meint möglicherweise, dass es ein Führungsvakuum gibt. Da mag was dran sein, aber innerlich gelähmt ist die NATO gewiss nicht. Cyberkrieg und hybride Kriegsführung beispielsweise sind neue Herausforderungen, mit denen sie sich intensiv befasst – das funktioniert besser als früher.
Schon während der Krimkrise ist das Bewusstsein gewachsen, dass die russische Strategie neben der militärischen Drohkulisse auch auf nichtmilitärische Komponenten setzt: Propaganda, Unterwanderung, Infiltration, Bedrohung der Energiestrukturen, Unterstützung paramilitärischer Gruppen – also all das, was man unter hybrider Kriegsführung versteht.
Die Verteidigung gegen solche Angriffe kann die NATO nicht per se leisten – das sind auch politische und gesellschaftliche Aufgaben. Daher ist es gut, dass die Nato sich jetzt intensiv mit der EU abstimmt. Deshalb ist das Bündnis für die hybride Kriegsführung schon jetzt erheblich besser aufgestellt als früher.
Was meinen Sie, wie würde ein Historiker der Zukunft die derzeitigen Leistungen der NATO beurteilen?
Langfristige Entwicklungen sind natürlich nicht vorauszusehen. Es kommt zum Beispiel sehr darauf an, ob sich die Regierungsform in Russland nach Putin noch autoritärer darstellen oder ob sie wieder offener wird. Die NATO ist ein sehr handlungsfähiges operatives Bündnis, einiges funktioniert sehr gut: Es gibt mittlerweile mehr Geld, die militärischen und strategischen Fähigkeiten werden ausgebaut, um im Ernstfall tätig werden zu können.
Wenn es die NATO schafft, die aus Russland kommende Eskalationsgefahr einzudämmen und politische Brücken zu bauen, dann würde das im Rückblick als Friedenspolitik bewertet. Ich glaube, dass die NATO – auch mit ihrer Wachsamkeit gegenüber China – ihren Sicherheitsauftrag erfüllen kann.
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