Ein minderjähriger, unbegleiteter Flüchtling hat die grausame Tat bei Würzburg begangen. Auch wenn ein Bekennervideo auf einen islamistischen Hintergrund hindeutet, stellt sich die Frage, warum der Jugendliche den Anschlag verübt hat, ob es doch Anzeichen für eine Radikalisierung gab und inwiefern die Tat psychologisch erklärt werden kann. Ein Experte versucht Antworten zu finden.
Noch immer stellt sich die Frage nach dem Grund für die schreckliche Tat des erst 17 Jahre alten Attentäters von Würzburg. Er kam zuvor nie mit dem Gesetz in Konflikt und war auch nicht als radikaler Islamist in Erscheinung getreten. Offenbar hat sich der mit 15 Jahren nach Deutschland gekommene unbegleitete Flüchtling extrem schnell radikalisiert.
Ob er zuvor traumatisiert war und wie das erkannt hätte werden können, versucht Prof. Dr. Thomas Loew, Leiter der Abteilung für Psychosomatik des Universitätsklinikums Regensburg, im Interview zu beantworten. Zudem erklärt er, wie Betreuer und Helfer im Umgang mit jugendlichen Flüchtlingen geschult werden müssten, um Gefahren vorzubeugen. Und warum es aus seiner Sicht nicht möglich ist, ausschließlich auf die Arbeit mit Psychotherapeuten zu setzen.
Gibt es bei Fällen wie dem sehr jung nach Deutschland geflohenem Attentäter von Würzburg vor der Tat Anzeichen für ein Trauma, die das Umfeld bemerken kann? Oder passieren solche Taten ganz plötzlich?
Professor Dr. Loew: Es gibt Symptome und die wären im Prinzip auch zu beobachten. Das Problem ist nur, dass die Betreuer, die Lehrer und die Familien, in denen die Jugendlichen untergebracht werden, diese Symptome nicht kennen - und deshalb auch nicht richtig interpretieren können.
Wir haben an der Universität Regensburg eine Checkliste entwickelt für jede Berufsgruppe, die in die Betreuung von Flüchtlingen involviert ist. Darin fragen wir zwischen 25 und 30 Kriterien ab. Je mehr dieser Kriterien zutreffen, desto wahrscheinlicher hat diese Person eine traumatische Störung.
Was sind das für Kriterien? Was kann man im Vorfeld für Anzeichen beobachten?
Das sind im Prinzip ähnliche Symptome wie beim ADHS, also dem Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom. Betroffene Jugendliche können sich oft schlecht konzentrieren, sie schlafen schlecht, können sich nichts merken. Ihre Stimmung schwankt zwischen super-hibbelig und sehr zurückgezogen. Wichtig ist: Man kann die Anzeichen auch als Nicht-Therapeut erkennen, wenn man weiß, worauf man achten muss.
Aber selbst wenn man die Anzeichen erkennt - die Frage nach dem Umgang mit den traumatisierten Menschen bleibt ja trotzdem bestehen. Wie müssten denn Pflegefamilien oder Einrichtungen aus Ihrer Perspektive geschult werden?
Wir brauchen eine Art Erste-Hilfe-Kurs für die Seele. Eine entsprechende Schulung haben wir hier in Regensburg bereits entwickelt. Darin arbeiten wir ein ABC ab - und bringen zunächst einmal den Helfern bestimmte Selbst-Stabilisierungstechniken bei. Es geht zum Beispiel um "A" wie entspannende Atemtechniken und "B" wie verschiedene Formen der Bewegung. Und die Frage, was eigentlich mit einem Menschen passiert, wenn er in persona einem anderen begegnet, auch im Unterschied zu einem Telefonat und einem Internet-Chat.
Es geht darum, eine echte Beziehung zu den Jugendlichen aufzubauen, also "C" wie Chance. Denn auch bei dem Täter von Würzburg ist zu beobachten: Die Frau, die er kannte, hat er in Ruhe gelassen. Wichtig bei unserem Modell ist: Wir bringen zunächst einmal den Helfern bei, dass sie sich selbst gut regulieren können, denn das überträgt sich dann auch auf die Gegenüber.
Sport, Bewegung - das sind ja eher Verhaltensansätze. Was müssen Betreuer und Helfer noch beherrschen? Braucht es nicht mehr Psychotherapie?
Nicht Psychotherapie im engeren Sinn, sondern einzelne Elemente aus der Psychotherapie, die die Selbststeuerung erleichtern, das ist der erste Schritt zur ganz wichtigen Stabilisierung dieser Menschen. Und dann kann man das im Umgang miteinander weiterentwickeln. Meine Meinung ist: Die Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche in Deutschland reichen zahlenmäßig sowieso nicht aus, um alle Schutzsuchenden in dieser Altersgruppe zu behandeln.
Das sehen Sie schon, wenn Sie die Größenordnungen betrachten. Wie soll das denn funktionieren, wenn circa eine Million Flüchtlingskinder bei uns leben, von denen vielleicht 150.000 schwer traumatisiert sind. Gleichzeitig stehen zusammen mit den niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiatern aber nur insgesamt 4.000 Psychotherapeuten zur Verfügung, die meistens über Monate ausgebucht sind. Deshalb brauchen wir Strategien, die vor einer Therapie zur Stabilisierung beitragen - und diese Strategien können wir in Kursen den Betreuern der Menschen vermitteln, die damit die Arbeit der Therapeuten unterstützen.
Hätte mit diesen Strategien das Attentat von Würzburg und damit auch der Tod des Täters bereits im Vorfeld verhindert werden können?
Das würde ich so nicht sagen, das geht mir als Annahme zu weit. Denn man muss sich immer klarmachen, dass die Menschen so sind, wie die Menschen sind. Natürlich gibt es immer eine bestimmte Anzahl von persönlichkeitsgestörten Menschen, von psychisch Kranken und auch von Kriminellen, die genauso Deutschland erreichen wie alle anderen auch. Vielleicht setzen sich diese Gruppen auf der Flucht auch durch eine besondere Rücksichtslosigkeit eher durch, so dass die Möglichkeit besteht, dass sie etwas stärker in der Gruppe der nach Deutschland Geflüchteten repräsentiert sind. Man kann die nicht alle vorab erkennen.
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