Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat in Deutschland eine Energiekrise ausgelöst. Als Chef der Bundesnetzagentur kämpft Klaus Müller dafür, deren Auswirkungen möglichst gering zu halten. Im Interview mit unserer Redaktion spricht er darüber, was der Atomausstieg Deutschlands für die Versorgungssicherheit bedeutet und warum die EU trotz explodierender Strompreise im vergangenen Jahr am Merit-Order-Prinzip festhält.

Ein Interview

Herr Müller, am Samstag sind die letzten drei AKWs in Deutschland vom Netz gegangen. Der Schritt wird immer noch kontrovers diskutiert. War er Ihrer Meinung nach richtig?

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Klaus Müller: Der Bundeskanzler hat eine klare Entscheidung getroffen. Und das aus guten Gründen, glaube ich. Unser Fokus als Bundesnetzagentur liegt auf den Aufgaben, die vor uns liegen, um weiterhin eine sichere Energieversorgung zu haben.

Kritiker des Atomausstiegs befürchten negative Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit mit Strom in Deutschland. Zu Recht?

Von allem, was wir bisher wissen und prognostizieren können, können wir das guten Gewissens verneinen.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder macht sich bezüglich dieser Frage trotzdem Sorgen. Er will das AKW Isar 2 wieder ans Netz bringen und in Länderregie betreiben. Was würden Sie ihm bezüglich dieser Idee sagen?

Gar nichts. Ich würde dazu schweigen.

Aus der Industrie sind ähnliche Töne zu vernehmen. Der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Peter Adrian, sieht Deutschland beim Thema Versorgungssicherheit "noch nicht über den Berg". Hat er recht?

Er hat insofern recht, als dass auch die Bundesnetzagentur darauf hingewiesen hat, dass bis 2030 und darüber hinaus eine ganze Reihe immenser Aufgaben vor uns liegen. Kurzfristig haben wir keine Sorgen bezüglich der Versorgungssicherheit. Und auch mittel- und langfristig können wir eine sichere Stromversorgung gewährleisten, wenn wir die Energiewende jetzt entschlossen vorantreiben.

Sie haben aber zuletzt immer wieder gewarnt, dass auch 2023 eine Gasmangellage drohen könnte.

Meine Formulierung ist immer: Es ist bei Gas auch im nächsten Winter nicht ausgeschlossen. Das hat aber nichts damit zu tun, ob wir genug Stromkapazitäten haben. Da sind wir nicht besorgt.

Laut Schätzungen Ihrer Behörde muss in Deutschland 2023 mindestens 20 Prozent weniger Gas verbraucht werden, um eine Gasmangellage zu vermeiden. Halten Sie das für realistisch? Noch nicht mal im vergangenen Jahr kam Deutschland auf diesen Wert.

Die Frage der Einsparung kommt sehr auf den Betrachtungszeitraum an. Im Winter, also von Anfang Oktober 2022 bis Ende März 2023 als sozusagen eine Gasmangellage tatsächlich im Raum stand, sind 19,8 Prozent eingespart worden. Wenn man das ganze Jahr 2022 betrachtet, kommt man hingegen auf eine Gesamtersparnis von 14 Prozent.

Aber wir sind relativ problemlos durch den Winter gekommen. Das dürfte nicht dazu beitragen, dass die Bürger sich zum Gassparen angehalten sehen, oder?

Sie legen Ihren Finger in die Wunde des Präventionsparadoxons. Aber ich bin trotzdem optimistisch. Trotz aller Preisbremsen und der deutlich gesunkenen Großhandelspreise ist Gas noch immer ausgesprochen teuer. Das heißt, es gibt Einsparungsanreiz in der Bevölkerung. Außerdem werden technische Lösungen wie Wärmepumpen vermehrt dazu führen, dass wir unabhängiger vom Gas werden und es nicht mehr so viele individuelle Verhaltensänderungen braucht.

Die Wärmepumpen gelten zusammen mit der E-Mobilität als Hauptgrund dafür, dass der Strombedarf deutlich steigen wird. Kann Deutschland das stemmen?

Ja. Aber noch sind die Stromnetze in Deutschland noch nicht überall so vorbereitet, wie wir uns das für die Zukunft wünschen. Wärmepumpen und Elektroautos können, wenn sie alle gleichzeitig Strom verbrauchen, zu einer Belastungssituation für die lokalen Netze führen. Deswegen hat die Bundesnetzagentur einen Schutzmechanismus vorgeschlagen, um einer Überlastung vorzubeugen. Für den Fall, dass es vor Ort tatsächlich Probleme gibt, geben wir den Netzbetreibern die Möglichkeit, den Verbrauch dieser Geräte zu dimmen. Das heißt nicht, dass das E-Auto dann nicht geladen wird, aber eben etwas langsamer. Damit geht aber gleichzeitig die Verpflichtung einher, dass der Netzbetreiber das Netz unverzüglich ausbaut.

Netzausbau und Energiewende gehören fest zusammen. Ist es, angesichts des Fachkräftemangels in der Branche, überhaupt realistisch, dass wir diese Aufgaben stemmen können?

Ich bin da optimistisch. Und zwar, weil die Bundesregierung schon Beschlüsse getroffen hat, die den Ausbau beschleunigen und vereinfachen. Das setzt auch Personalressourcen frei.

Das ändert aber nichts an den faktisch fehlenden Fachkräften.

Wir brauchen natürlich Menschen. Am besten schon morgen. Aber wir brauchen sie auch noch übermorgen. Und da liegt doch die Chance eines Zukunftsprojektes wie der Energiewende: Das Interesse junger Menschen am Klimaschutz und der Energiewende ist sehr groß. Womöglich entscheiden sich künftig eben auch mehr, diesen Berufszweig zu wählen.

Deutschland ist bei der Energiewende auf Technologien aus China angewiesen. Sollte der Taiwan-Konflikt eskalieren, könnte der Zugang zu diesen schnell wegfallen. Bereitet Ihnen das Sorge?

Ich mache mir viele Gedanken darüber. Außenministerin Baerbock hat ja in den letzten Tagen auch noch einmal an China und die USA appelliert, die Konflikte friedlich zu lösen. Unabhängig davon ist es sicherlich schlau zu überlegen: Welche Kapazitäten für die Energiewende brauchen wir in Europa und wie kann man resilienter gegen externe Einflüsse werden. Aber das ist keine Kernaufgabe der Bundesnetzagentur.

Der Ausbau der überregionalen Netze allein kostet Schätzungen der Netzbetreiber zufolge etwa 128 Milliarden Euro. Sie selbst haben die Summe als "heftig" bezeichnet. Worauf müssen sich die Verbraucher und Verbraucherinnen dabei einstellen?

Dass natürlich jemand diese Kosten auch tragen muss. Das Geld fällt ja nicht vom Himmel und wird in Deutschland auch nicht über Steuern bezahlt. Sondern die Kosten werden von privaten, aber natürlich auch industriellen Stromkunden getragen werden müssen.

Aktuell ist Strom aus erneuerbaren Energien die kostengünstigste Variante für die Verbraucher. Besteht angesichts der immensen Ausbaukosten die Gefahr, dass dieser Effekt verpufft?

Investitionen in die Netze sparen uns an anderer Stelle beträchtliche Summen. Etwa bei den Kosten, die anfallen, weil Strom nicht immer einfach von Punkt A nach Punkt B transportiert werden kann. Da fallen jährlich einige Milliarden an, die wir über die Stromrechnung tragen müssen. Wenn das Netz ausgebaut ist, fallen diese Kosten weg. Und natürlich dürfen wir die Kosten durch die Klimakrise nicht außer Acht lassen. Die fallen natürlich nicht direkt auf der Stromrechnung an. Aber wir werden zum Beispiel im nächsten Sommer eine Diskussion über das Obst und Gemüse aus Spanien haben. Weil das aufgrund der dortigen Wasserknappheit als Folge der Klimakrise nicht mehr, oder nur noch wesentlich teurer produziert werden kann. Unterm Strich sind wir gut beraten, in eine klimaneutrale Stromerzeugung zu investieren, auch wenn das erst mal teuer ist. Wann sich das in Zukunft ganz genau ausgleicht, kann ich nicht beantworten. Dafür müsste ich in die Glaskugel schauen und das wäre unseriös.

Die Strompreise sind 2022 explodiert, weil sie durch das Merit-Order-Prinzip an den Gaspreis gekoppelt sind. Die EU arbeitet deswegen derzeit an einer Reform des Strommarkts, bei dem auch eine Abschaffung des Prinzips im Gespräch war. Diese Pläne sind aber jetzt vom Tisch. Weswegen?

Weil sich bei der EU-Kommission glücklicherweise die Einsicht durchgesetzt hat, dass die Alternativen zum Prinzip der Merit-Order letztendlich alle schlechter wären.

Wieso?

Weil sonst die Staaten in die Preisgestaltung eingreifen müssen. Dann würden etwa bestimmte fossile Formen der Stromerzeugung subventioniert werden. Spanien hat zum Beispiel temporär Gaskraftwerke subventioniert. Das hat den Strompreis gedrückt und gleichzeitig den Gasverbrauch nach oben getrieben.

Aber die Reform des Strommarkts ist deswegen angestoßen worden, um die Verbraucher vor einem extremen Preisanstieg zu schützen. Wie soll das denn stattdessen funktionieren?

Die Krise war ein Resultat der explodierenden Gaspreise. Die Entlastungspakete der Bundesregierung waren da viel besser, als es eine Veränderung des Strommarktes wäre, deren Nebenwirkungen man nur schwer überblicken kann. Mittlerweile sind die Preise ja auch wieder gesunken. Das Problem ist, dass die sinkenden Preise immer erst verzögert bei den Kunden ankommen. Längerfristig gilt: Wenn es gelingt, die Abhängigkeit von Gas generell zu reduzieren, dann verhindern wir solche exorbitanten Preisspitzen. Letztendlich schützt eine günstige Form der Energieerzeugung die Verbraucher am besten. Und das erreichen wir mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien. Die Merit-Order ist dafür der beste marktwirtschaftliche Anreiz.

Eine Möglichkeit Deutschlands sich bei Gas unabhängiger zu machen, wäre Fracking im eigenen Land. Wie stehen Sie dazu?

Die Bundesnetzagentur ist nicht zuständig und hat auch keine vertiefte Kompetenz, was Fracking in Deutschland angeht. Man sieht aber, es fordern immer diejenigen Fracking-Gas, die nicht dort leben, wo es abgebaut werden soll. Die Menschen in den entsprechenden Regionen sind mehrheitlich nicht begeistert davon. Das gibt zumindest mir sehr zu denken.

Auch LNG-Terminals stoßen auf Widerstand aus der Bevölkerung. Was man den Menschen zumutet, ist immer eine politische Entscheidung,

Stimmt. Für die LNG-Terminals hat die Bundesnetzagentur auch eine Verantwortung und macht sich als Befürworterin nicht immer beliebt. Aber beim Thema Fracking müssen das andere beurteilen.

Dann bleiben wir bei den Terminals. Wie kann es sein, dass die in wenigen Monaten durchgewunken werden, während Windkraftanlagen seit Jahren nur schleppend vorankommen?

Bei den LNG-Terminals wurde angesichts der unmittelbaren, existenziellen und gefährlichen Abhängigkeit von russischem Erdgas ein spezielles Gesetz beschlossen. Darüber können wir froh sein, weil es zur Vermeidung der Gasmangellage beigetragen hat. Dieser unmittelbare Zusammenhang einer Gefahrenabwehr ist bei einer Windkraftanlage etwas schwieriger herzustellen und zu kommunizieren.

Gruppen wie die "Letzte Generation" würden Ihnen diesbezüglich vermutlich widersprechen.

Auch für den Ausbau der Windkraft wurde die Vergütung erhöht und Beschleunigungsgesetze beschlossen und diese Woche hat das Kabinett sich auf weitere Erleichterungen im Immissionsschutzrecht geeinigt. Die Bundesländer sind verpflichtet, im Durchschnitt zwei Prozent ihrer Fläche für Windkraftanlagen zur Verfügung zu halten. Aber das wird erst in der Zukunft Wirkung entfalten. Ich bin auch ein unruhiger und ungeduldiger Mensch. Aber man muss den Akteuren auch die Chance geben zu investieren und umzusetzen, was im Bereich der Erneuerbaren möglich ist.

Offenlegung: Auch Web.de und Gmx.net bieten Strom an

Zur Person: Klaus Müller ist studierter Volkswirt, eingetragenes Mitglied der Grünen und seit dem 01. März 2022 Chef der Bundesnetzagentur. Zuvor war der 1971 Geborene Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbands und Leiter der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Vor seiner Zeit als Verbraucherschützer war Müller als Politiker tätig. Von 1998 bis 2000 saß er für die Grünen im Bundestag, bevor er das Umweltministerium in Schleswig-Holstein bis 2005 übernahm.
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